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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Kupfer in silbernen Strömen in die Körbe geschaufelt. Deren Fülle und Consumtion wird nur noch von den „Shrimps“ (kleinen Seekrebsen, aber einer gar nicht krebsartigen, sondern sehr lebhaften, heuschreckenähnlichen Creatur) übertroffen. Ein paar Millionen englische Familien essen sie täglich zum Thee, und der Hausvater schmollt, wenn sie einmal fehlen, und blos durch die ebenso populäre Wasserkresse ersetzt werden. Sie werden des Nachts von den Meeresgestaden in der Nähe von Flußmündungen förmlich aufgeschaufelt, in Salz gekocht, und täglich schiffsladungsweise in jeder Stadt verspeist. Man hat die Kanne oder das Nösel schon für einen Silbergroschen. Die großen, ausgesuchten bezahlt man dagegen thörichter Weise, da sie nicht so fein schmecken, mit einem halben Thaler per Kanne.

Aale werden aus sumpfigen Stellen in Häfen und aus Fluß-Buchten während der Ebbe mit Gabeln herausgestochen, wie in Deutschland im Winter aus gefrornen Seen, in deren Eis man zu diesem Behufe Löcher hackt. Aber die meisten und besten Aale (für die Pasteten) bekommt England von den Holländern, die sie zu fangen verstehen. Die Engländer scheinen nichts davon zu wissen. Die Männer der Naturwissenschaft haben beobachtet, daß Heere junger Aale jährlich die englischen Flüsse hinaufziehen, oft vier Tage lang in einer dichten Masse und zwar vor einem festen Punkte vorbei je 15–1600 in jeder Minute, so daß ein einziger Fluß in den vier Tagen nicht weniger als neun Millionen Aale aufnehmen würde.

Nach Mayhew’s Berechnungen (in seinem berühmten, vielbändigen Werke: London Labour and London Poor, „Londoner Arbeit und Armuth“) verzehrt London jährlich außerdem: 496,000,000 Austern, 1,300,000 Hummern, 600,000 pfundige Krabben, 500,000,000 Shrimps, 5,000,000 Herzmuscheln, 50,000,000 Kinkhörner (mussels, Schnecken) 76,000,000 Trompetenschnecken (cockles) und 340,000,000 Kammmuscheln (periminkles). Letztere läßt sich der zerlumpteste Junge und Irländer oft täglich mehrmals in die Tasche schütten und knaupelt sie auf der Straße mit einer Stecknadel aus den schmutzigen Gehäusen in die schmutzigere Consumtions-Einfahrt.

Austern hat man in Schottland für 6 bis 10 Sgr. per Hundert, in London durchschnittlich für einen halben Penny per Stück. Doch hat man künstliche Austerbänke mit associirtem Capital für die englische Hauptstadt angelegt und das Geschäft so profitabel gefunden, daß andere Compagnien sich für denselben Zweck gebildet haben und so hier Aussicht auf größere Wohlfeilheit vorhanden ist.

Hummern machen sich täglich frisch riesig in ihren rothrepublikanischcn Uniformen in Tausenden von Buden breit, ohne daß die Polizei nur eine Miene verzieht oder Palmerston das Vaterland in Gefahr erklärt. Man sieht sie täglich zu hohen Preisen verschwinden, weil man sich den Glauben angewöhnt hat, Hummern-Salat dürfe bei keiner respectabeln Mahlzeit fehlen. Man führt diese Riesenkrebse in unzähligen Tausenden von Norwegen und von den irländischen Küsten ein, aus deren Felsenlöchern sie mit kleinen hakigen Harpunen herausgepickt werden. Außerdem fängt man sie in Töpfen, die wie große Draht-Mausefallen geformt, von Holz geflochten sind. Stückchen Fische hineingehangen dienen als Köder.

Die Irländer, welche sich nicht mehr an kranken Kartoffeln, die sie salzen und schmalzen, indem sie sie an die Stelle halten, wo früher der Familienhering baumelte, satt essen können und thatsächlich durch Hunger um mehrere Millionen abgenommen haben, während sich (mit Ausnahme der neuesten, geretteten Franzosen) alle andern gebildeten Völker durch Ueberschuß der Geburten vermehren, diese Irländer sehen oft Meeresbuchten thatsächlich mit Fischen überfüllt, aber man fängt sie nicht, da die Fischer selbst genug haben, und für die Millionen, die sie eben nur herauszuziehen brauchten, kein Salz und kein Fuhrwerk vorhanden ist. An manchen irländischen Küsten kosten Tausend frische Heringe 6 bis 7 Silbergroschen. Einige Meilen weiter sind sie schon um keinen Preis mehr zu haben, weil kein Weg hinführt und keine Menschen dort wohnen, die tausend oder nur hundert Heringe kaufen können.

Die Engländer sind eben blos blind geldgierig und nehmen direct weg, ohne kaufmännisch oder praktisch zu verfahren. Der praktische Mensch mit einiger volkswirthschaftlicher Bildung schont sein lebendiges oder liegendes Eigenthum, ohne dazu der Moralität oder der Humanität zu bedürfen. Es ist sein Eigennutz, der ihn lehrt, seine Bezugsquellen kräftig zu erhalten, weil er das nächste Jahr auch ernten will. So weit sahen die Engländer nie, nicht blos nicht in Irland, nicht in Indien, sondern auch nicht einmal in ihrem heimischsten Eigenthume. Dies läßt sich an den meisten ihrer natürlichen Reichthumsquellen nachweisen. Wir beschränken uns hier auf ihre Weisheit und Gesetzgebung in der Lachsfischerei.

Die englische Lachsfischerei lieferte einst das Pfund delicaten frischen Lachs für 2 bis 5 Sgr. Jetzt bezahlt man dieselbe Quantität in London mit 2 bis 3 Thalern. Und doch legt jede Lachsmutter jedes Jahr die Eier zu 1500 bis 5000 Jungen. Dies ist zwar nicht die Fruchtbarkeit der Stockfische, von denen in einem Jahre eine einzige Mutter sich um 9,384,000 Junge vermehrt (so viel Eier hat man in einem einzigen Rogen gezählt) oder die Nachkommenseligkeit des Flunders, der von einem Gewichte von 48 Loth beinahe die Hälfte in anderthalb Millionen Eiern ablegen kann; aber doch immer eine Vermehrungskraft, gegen welche sich der Mensch mit allen Mitteln der Zerstörungswuth bewaffnen mußte, um das Pfund Lachs von 2 Silbergroschen auf 2 Thaler zu treiben.

Allerdings haben die delicaten, zierlichen kleinen Lachse auch besonders viel Feinde in ihrem Elemente. Forellen, Hechte, ja die eigenen Herren Eltern – scheußliche Kannibalen – verschlingen die neugebornen Lachse in Legionen ungesalzen, ungeräuchert, ungebraten. Den flußgebornen Jungen, welche entkommen und nach dem Meere hinunterziehen, lauern eine ganze Menge andere Raubfische (besonders die zahlreiche, niederträchtige Race der gadilae, auch Seeottern u. s. w.) in listig aufgesuchten Winkeln auf und stürzen sich unter die jungen Reisenden, welche sich die große oceanische Welt draußen besehen wollen, mit gierig schnappenden und verschlingenden Rachen, so daß nach der Beobachtung des Pisciologen Sir Humphry Davy von je 17,000 glücklich Neugebornen nur etwa je 800 das Meer erreichen. Und im Meere gibt’s dann auch keine Eigenthum und Personen schützenden Wasser-Polizei-Lieutenants. Aber dabei fühlen sie sich doch bald genug Vater und Mutter und ziehen wieder hoch in die Flüsse hinauf, um dort für ihre Nachkommenschaft Entbindungsanstalten und Wochenbetten aufzusuchen. Auf dieser Rückreise aber just eben, wo sie schwer und werthvoll sind und ihr größter, blindgierig übersehener Werth in deren Nachkommenschaft besteht, führt der Mensch, der Engländer, der „Erbadel der Menschheit“, wie sie Macaulay nennt, ohne einen einzigen andern Grund dafür anzugeben, auf jedem Schritte mörderischen Vertilgungskrieg gegen sie. Ganze Heerden von Flußwilddieben ziehen um die Laichzeit der Lachse Netze von einem Ufer zum andern und laufen damit dem stromaufwärts ziehenden Lachse entgegen, mit jedem oft Tausende der nächsten Zukunft tödtend. Privatpartieen brechen gegen Abend auf, in Lumpen gehüllt und mit geschwärzten Gesichtern, versammelt sich an vorher aufgespürten Laichbetten, zünden sich Kienspähne an und gehen nun mit langen Stechlanzen an ihr unheimlich beleuchtetes Mordwerk der Nacht, in deren blendende Helle und Hölle die Wasser-Constabler von dunkeln Bergen oben furchtsam hineinblicken, daß man sie nicht entdecke und als Wächter des Gesetzes mit den Stechlanzen kitzele.

Man hat schon solche Flußritter der Nacht entdeckt, welche durch eine einzige „Portion“ 10–15 Pfund Sterling bei spottwohlfeilem Verkauf einiger 30–40 pfündigen Lachse gewannen.

Zu diesen Feinden kommen Tausende von Maschinen, die sich an manchen Flüssen in chausseepappelbaumähnlichen Reihen entlang ziehen und den Abfluß und Abfall alles Tortes und Dampfes in die zu großen offenen Kloaken gewordenen Flüsse abführen, so daß darin kein Meerweib einem Goethe’schen Fischer mehr zurufen kann: „O wüßtest Du, wie’s wohlig ist dem Fischlein auf dem Grund!“ Der große, einst wunderschöne, von Lachsen wimmelnde Fluß Mersey ist ausgestorben, wenigstens von der Einmündung des Irwell-Flusses an, der allen Baumwollenmaschinen-Schmutz Manchesters hineinspült.

Dazu kommt, daß die jungen Lachse im Stadium der Kindheit unter dem Namen parrs in Schottland, in England samlets, unbehindert tausendweise von Kindern und erwachsenen Anglern weggefangen werden, und sie nur im zweiten Stadium ihres Wachsthums unter dem Namen „smolts“ den strengsten Schutz parlamentarischen Gesetzes genießen. – Die Flüsse Englands

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 660. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_660.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2022)