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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Ein unaufgelöstes Räthsel.

In dem Orte Weiskirchen, drittehalb Stunden von Offenbach entfernt, wurde am 14. November 1853 eine Unbekannte, welcher alle Legitimationspapiere fehlten, angehalten, verhaftet und am 15. dem großherzoglich hessischen Kreisamte Offenbach vorgeführt. Nach der Bekanntmachung des Kreisamtes war dieses Mädchen „ungefähr 22 bis 24 Jahre alt, 6 Fuß 4 Zoll großherzoglich hessischen Maßes (rheinisch: 5 Fuß 4 Zoll) groß, hat blonde Haare, eine hohe und breite Stirn, blonde Augenbrauen, blaugrüne Augen, eine gebogene Nase, einen breiten Mund, ein ovales Gesicht, breite, etwas hervorstehende Backenknochen, eine gesunde Gesichtsfarbe, ist von mittlerer Statur und ohne besondere Kennzeichen. Bei seiner Verhaftung trug dasselbe ein kattunenes, roth und weiß carrirtes Halstuch, roth gezeichnet Carolina B., eine Kontusche von schwarzem Orleans, eine bunte kattunene Schürze, einen kattunenen gestreiften Rock, einen grauen Unterrock von Sackzwillich, einen wattirten Unterrock, ein grobes leinenes Hemd, bis an die Hüfte aufgerollt, über demselben ein weiteres Hemd von Shirting. Ferner trug dasselbe einen Fingerhut, etwas Garn, Seife und einen Kamm in einem Säckchen bei sich, welch’ letzteres das Mädchen auf seinem Leibe verborgen hatte. Alle angestellten Versuche, sich mit gedachter Person verständlich zu machen, blieben lange fruchtlos, weil sie die bekannteren neueren Sprachen entweder nicht versteht oder nicht verstehen will; endlich wurde aber ermittelt, daß sie der ungarischen Sprache mächtig ist. In letzterer sagte sie nunmehr, daß sie in ihrem fünften Lebensjahre von einem Manne, Namens Eleasar, ihrer Mutter genommen und in ein in tiefem Walde gelegenes Haus gebracht worden sei, wo ein Mädchen, Namens Bertha, sie in weiblichen Handarbeiten unterrichtet habe. Kurze Zeit, bevor sie in der Nähe von Offenbach angehalten worden sei, habe sie das Haus im Walde mit der Bertha verlassen, sei mit derselben mehrere Tage hindurch in einem Glaswagen gefahren; endlich seien sie in einem Wirthshause in der Nähe des Ortes, in welchem sie am 14. November v. J. (1853) verhaftet wurde, eingekehrt, hätten hier übernachtet und des anderen Tages habe sie Bertha verlassen. Die gehegte Vermuthung, daß gedachte Person mit einem k. k. österreichischen Militairtransporte in hiesige Gegend gekommen sei, hat sich nicht bestätigt. Dieselbe ist angeblich des Schreibens unkundig und ohne alle Religion, dagegen im Stricken von Strümpfen und Decken geschickt, äußerst reinlich und verschämt. „Da bisher alle Bemühungen“ – so heißt es am Schlusse jener Bekanntmachung – „den Namen, die Herkunft und die sonstigen Verhältnisse der oben signalisirten Person zu ermitteln, fruchtlos geblieben sind, so werden alle Polizei- und Gerichtsbehörden, welche über solche etwa Aufschluß ertheilen können, ersucht, desfallsige Mittheilungen hierher gelangen zu lassen.“

Diese Aufforderung hatte keinen Erfolg, von keiner Behörde kam dem Kreisamte Nachricht über die Unbekannte zu. Man hegte gegen die Fremde anfänglich Argwohn, hauptsächlich darum, weil sie des Schreibens unkundig sein wollte, sich einer unverständlichen Sprache bediente, wie dies von Betrügerinnen, welche näheren Nachforschungen ausweichen wollen, mitunter geschieht, und eine ihr nicht passende, für ihren Körper zu weite Kleidung trug. Unter dem Eindruck dieses Argwohns führte man sie in das Offenbacher Kreisgefängniß. Der Aufseher desselben machte an ihr aber so auffallend günstige Wahrnehmungen, daß er sie in seine eigene Familie aufnahm. Caroline, wie die Fremde von nun an genannt wurde, zeigte sich als willig und sanft, überhaupt als in jeder Beziehung gutartig, schien von unsittlichen Gesinnungen oder gar Handlungen gar keine Ahnung zu haben, war sehr schüchtern und in hohem Grade reinlich. Im Lesen, Schreiben und Rechnen war sie gänzlich unerfahren, so daß sie nicht einmal wußte, daß es Zahlen und Buchstaben gebe, in der Religion kannte sie die Grundbegriffe nicht. Als sie bereits Unterricht empfangen hatte, fragte sie den Lehrer noch: „Wer ist Gott und wo ist Gott?“ und hörte den Erläuterungen, welche sie darüber erhielt, mit sichtlicher Aufmerksamkeit zu. Den ungarischen Ausdruck: Ischtéman (mein Gott)! brauchte sie allerdings oft, aber nur um damit Schrecken oder Verwunderung auszudrücken und ohne an Gott zu denken. In der Verrichtung häuslicher Arbeiten war sie so unerfahren und ungeschickt, daß sie nicht einmal Kartoffeln schälen konnte. Lehren, die man ihr in dieser Beziehung gab, nahm sie begierig an und verrieth alle Zeit den Trieb, in Stube und Küche nützlich zu sein. Nach den ersten Anweisungen legte sie für alle Hausarbeiten ein wahres Talent an den Tag. In einer war sie von vornherein auffallend geschickt – im Stricken. Sie verfertigte mit der Stricknadel baumwollene Decken von tadelloser Güte und in einer Nacht, ohne Licht, zwei blaue wollene „Stauchen“ (Pulswärmer?) mit braunen Rändern. Auf alle Menschen, welche sie sahen, machte sie den Eindruck eines ganz unschuldigen Kindes, das in tiefer Einsamkeit ohne allen Unterricht aufgewachsen und in geistiger Hinsicht auf der untersten Stufe der Entwickelung zurückgeblieben sei.

Als man sich überzeugt zu haben glaubte, daß man keine Betrügerin, sondern ein höchst unglückliches Mädchen vor sich habe, konnte man Caroline im Gefängniß nicht länger lassen. Der Stadtrath von Offenbach berieth am 19. April 1854 über ihr ferneres Schicksal und beschloß einstimmig, daß für ihre Unterhaltung und Ausbildung so lange Sorge getragen werden solle, bis sie im Stande sei, sich selbst auf eine ehrbare Weise zu ernähren. Die hierzu erforderlichen Geldmittel sollten durch freiwillige Beiträge zusammengebracht und die etwa fehlende Summe aus der Stadtcasse ergänzt werden. Man beschloß endlich, falls sich Caroline bis zu der Zeit, wo sie sich selbst zu ernähren im Stande sei, musterhaft betrage, ihr das Heimathsrecht in der Stadt Offenbach zu verleihen. Das Ministerium des Innern genehmigte diese Beschlüsse und Caroline wurde aus dem Gefängnißhause zu einer achtbaren Familie gebracht, um dort die zu ihrem spätern Fortkommen dienlichen häuslichen Arbeiten zu erlernen und im Bügeln und Nähen besonderen Unterricht zu empfangen. Sehr schwer und unter vielem Weinen trennte sie sich von der Familie des Gefängnißaufsehers. Nachdem sie in der neuen Umgebung längst heimisch geworden war, äußerte sie noch häufig den Wunsch, ihre „Deutsch-Mama“ (die Frau des Aufsehers) besuchen zu dürfen. Ein Lehrer der Offenbacher Volksschule, Friedrich Eck, wurde beauftragt, ihr Unterricht in der deutschen Sprache und, sobald sie darin die nöthigen Fortschritte gemacht habe, in der Religion, im Rechnen und Schreiben zu ertheilen.

Die gerichtliche Aufforderung zu Mittheilungen über Carolinen hatte, wie wir bereits wissen, keinen Erfolg gehabt. Spuren, welche auf ein bestimmtes Land, dem die Unbekannte angehören müsse, hinwiesen, waren vorhanden. Die Stelle der Aufforderung des Offenbacher Kreisamtes, worin gesagt wird, man habe ermittelt, daß sie der ungarischen Sprache mächtig sei, kennen wir. Diese Behauptung beruhte auf der Aussage eines Unbekannten, der ein gebildeter Mann gewesen sein soll und mit Carolinen im Gefängniß ungarisch gesprochen hatte. Im Verlaufe der beiden nächsten Jahre (1854 und 1855) stellten sich noch zwei andere Ungarn ein, ein Lieutenant und ein Professor, die sich mit ihr in ihrer Sprache, allerdings nur schwer, verständigen konnten. Caroline erklärte, daß sie immer, wenn einer dieser Herren bei ihr gewesen sei, unwillkürlich an ihre Mutter erinnert worden sei, denn jeder habe so gesprochen wie diese. Durch die Ermittelungen des Sprachforschers Lorenz Diefenbach erhalten diese Worte Bedeutung. Danach ist nämlich das Ungarische (Magyarische) Carolinens vielfach von der Schriftsprache abweichend und einigermaßen mit fremden Wörtern gemischt, die indessen meistentheils in Ungarn verbreiteten Sprachen angehören. So scheint es also mit Gewißheit (von Carolinens Erzählung sehen wir vorläufig ab) angenommen werden zu können, daß ihre Mutter die reine Schriftsprache geredet hat und ihr eigener verdorbener Dialekt mit ihrer spätern Umgebung in Verbindung steht.

Als die Unbekannte der deutschen Sprache hinreichend mächtig war, theilte sie sich über ihr früheres Leben mit. Ihre Erzählung ist in zusammengedrängter Form folgende. Bis zu ihrem fünften Jahre lebte sie bei ihrer „Mama“ in einem großen einsam gelegenen Gebäude, welches in Form eines Vierecks einen Raum (Hof) einschloß. Dieses Gebäude hatte nur einen einzigen Eingang, ein bogenförmiges Thor mit zwei Flügeln, dem zur Rechten und Linken hallenförmige Räume lagen, durch die man in das Gebäude selbst gelangte. Der Eingang zur Linken führte blos in das Erdgeschoß; wollte man in die obern Stockwerke gehen, so mußte man sich rechts wenden, wo es eine sehr hohe und breite Wendeltreppe gab. In das Erdgeschoß konnte man auch auf dieser

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_025.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)