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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Weg, den sie mit der Fremden bis zum Hause, wo sie bestohlen wurde, einschlug, hätte auffinden müssen. Wäre man auf diese Art nur in den Besitz ihrer Ohrringe und ihres Medaillons gelangt, so würde die Mühe vollauf belohnt gewesen sein. Diesen Versuch, durch ein Umherführen Carolinens weitere Aufschlüsse zu erlangen, hat man nicht gemacht, wenigstens schweigt die Eck’sche Schrift davon gänzlich.

Wir wollen nun Carolinens Glaubwürdigkeit in objektiver wie in subjectiver Beziehung prüfen. Verdient ihre Erzählung an sich, von ihrer Persönlichkeit abgesehen, Vertrauen? Ihre Schicksale sind räthselhaft und in einigen Punkten unwahrscheinlich. Daß sie aus Ungarn, diesen geographischen Begriff in dessen weitestem Umfange genommen, stamme, ist keinem Zweifel unterworfen. Die Sprache, deren sie bei ihrem ersten Erscheinen in Offenbach allein mächtig gewesen ist, liefert einen vollgültigen Beweis. Ihr Alter bei ihrer Abführung aus der Waldwohnung zu 21 Jahren angenommen, ist sie im Jahre 1832 geboren worden und im Jahre 1837 verschwunden. Die ungarischen Zustände in jener Zeit reden der Möglichkeit eines solchen Verschwindens das Wort. Wir wissen zur Genüge, daß weder die ungarische Polizei, so weit von einer solchen die Rede sein kannte, noch die ungarischen Gerichte zur Verhütung und Entdeckung von Verbrechen besonders geeignet waren. Allerdings hat Caroline nach der Revolution noch vier Jahre in ihrer Waldwohnung gelebt, und in diesen vier Jahren gab es eine österreichische Polizei. Aber trotz energischer Bemühungen ist die neue Ordnung noch nicht so durchgedrungen, um dem Verstecken eines jungen Mädchens, das seit sechzehn Jahren verschollen war, etwas Unmögliches oder auch nur Unwahrscheinliches zu geben. Haben doch unsere Gerichtszeitungen Fälle von Kindern mitgetheilt, die unter den Augen der deutschen Polizei und in volkreichen Städten Jahre lang auf Böden oder in Kellern eingeschlossen gewesen sind. Die bessere Organisation der österreichischen Polizei kann der Grund gewesen sein, daß man Carolinen, da man des Geheimnisses nicht sicher war, entfernte.

Die Entführung von Kindern durch Zigeuner und andere Vagabunden war in dem früheren Ungarn kein ganz ungewöhnliches Vorkommniß. Daß man dem verschwinden Carolinens wirklich die Form einer solchen Entführung gegeben habe, wofür allerdings der Anschein spricht, möchten wir nicht behaupten. Um darüber mit größerer Sicherheit sprechen zu können, müßten wir die Motive des an ihr begangenen Verbrechens wissen, und gerade diese verhüllen sich uns. Jene angebliche Form der Entführung setzt die Annahme voraus, daß Caroline ihrer Mutter geraubt worden sei. Der intellectuelle Urheber des Raubes wäre nicht weiter zu suchen; der „Ongkar“ wäre es, der Carolinen in den Garten schickte, wo der Mann mit dem großen schwarzen Barte (Eleasar) sie auf den Arm hob und forttrug. Denkt man sich das Verschwinden Carolinens als Kinderraub, so wird die Sache unwahrscheinlich, obgleich nicht unmöglich. Die bekümmerte Mutter würde in diesem Falle Alles aufgeboten haben, ihr Kind wieder zu erlangen, und der Oheim hätte einen schweren Stand bekommen. Wie nun aber, wenn die Mutter um die Entführung gewußt hätte? Caroline braucht nicht nothwendig eine reiche Erbtochter zu sein, deren Rechte geldgierigen Seitenverwandten im Wege standen, sie kann eben so gut ein uneheliches, oder im Ehebruch erzeugtes Kind einer vornehmen Dame sein, das man verschwinden läßt, wenn die Dehors es erfordern. Unnatürliche Mütter hat es stets und in allen Ländern gegeben, warum nicht auch in Ungarn und im Jahre 1837? Nehmen wir an, daß die Mutter, froh, einer für ihren Ruf gefährlichen Bürde ledig zu werden, fortreiste, weil sie um ihrer Nerven willen vor der Entführung einige Meilen zwischen sich und dem Ort des Verbrechens sehen wollte, nehmen wir ferner an, daß der Ongkar, der ein noch näherer Blutsverwandter Carolinens sein kann, den zurückbleibenden Dienstmädchen sagte, die Kleine sei an einen andern Ort entfernt worden, so erhalten wir eine Sachlage, welche Nachforschungen ausschloß. War die Mutter ruhig, so hatten die Dienstmädchen wahrlich keine Veranlassung, Polizei und Gerichte in Bewegung und sich selbst in Unkosten zu setzen.

In dem, was Caroline von der Waldwohnung erzählt, stoßen wir auf Unwahrscheinlichkeiten. Daß Bertha, eine alte Dienerin des Hauses, auf sechszehn Jahre verschwinden konnte, hat nichts auf sich. Erhielt sie unter irgend einem Vorwande ihre Entlassung, und reiste sie vor Aller Augen ab, so fragte gewiß Niemand weiter nach ihr. Auch Adolf, dieses zweite Opfer, hat für uns nichts Anstößiges. Hatte ein zweiter, von Folgen begleiteter Fehltritt der Mutter Carolinens stattgefunden, so lag nichts näher, als die Frucht des ehebrecherischen Umganges an denselben Ort zu schaffen, der die erste mit glücklichem Erfolg verbarg. Wir wollen diese Erklärung übrigens Niemand aufdringen, wir stellen sie nur auf, um zu beweisen, daß Carolinens Erzählung, denkt man sich die Mutter als Mitschuldige des Verbrechens, den vollen Anschein der Glaubwürdigkeit gewinnt. Lag die Waldwohnung in einem Theile des Waldes, den höchstens der Förster betrat, und war Eleasar dieser Förster, so war man vor einer Entdeckung ziemlich sicher, und Eleasar konnte Brennstoff, Speisen und Wolle zutragen, ohne daß seine Gänge auffielen. Unwahrscheinlich klingt, was Caroline von der äußern Einrichtung dieser Wohnung sagt, daß der Eingang mit einer Fallthür, die Fenster mit Deckeln versehen gewesen seien, und daß diese zum Schließen bestimmten Gegenstände einen solchen Graswachs getragen hätten, daß sie von dem anderen Boden nicht zu unterscheiden gewesen wären. Wie konnte Gras auf den Deckeln und der Fallthür wachsen, wenn nicht eine Erdunterlage vorhanden war, in der das Gras Wurzeln zu schlagen vermochte? Gab es aber eine solche Erdschicht, wie konnte dann Bertha die schwere Fallthür, der Caroline die Größe einer Stubenthür gibt, von unten aufheben? Es würde ihr unmöglich gewesen sein, und wenn wir Caroline in diesem Punkte nicht der Lüge zeihen wollen, womit ihre ganze Glaubwürdigkeit ihr Ende erreicht hätte, müssen wir nach Mitteln fragen, wie Bertha verfuhr. Da ist nur zweierlei möglich. Entweder gab es einen Mechanismus, den Caroline nicht kannte und dessen Bertha beim Oeffnen der Fallthür sich bediente, oder es war ein geheimer Ausgang vorhanden, den die Wärterin, wenn sie mit Carolinen in den Wald ging, unbemerkt benutzte, die Fallthür von außen öffnete, und dann ihre Genossin in’s Freie führte. Mehrere Umstände unterstützen die letztere Erklärung. Es war Carolinen verboten, den Gang, an dem ihre Stube lag, weiter zu verfolgen, und auch in den Keller durfte sie nur bis zur Hälfte der Treppe gehen. Wozu diese Verbote, wenn der Gang und der Keller nichts verbargen, was Carolinen zu einer etwaigen Flucht dienlich sein konnte? Wenn Bertha das unreine Geschirr säuberte, schloß sie sich in die Küche ein, wo der Eingang zum Keller lag. Dieses Einschließen hatte keinen Sinn, wenn in der Küche weiter nichts als das Waschen des Geschirres vorging. Es wird noch etwas Weiteres vorgegangen sein: Bertha hat, nachdem sie sich eingeschlossen, mit Benutzung des geheimen Ausgangs das Wasser geholt, dessen sie beim Reinigen der Geschirre in größerer Menge bedurfte. Daß die Fallthür von außen geöffnet wurde, ist nicht nur aus innern Gründen wahrscheinlich, Caroline spricht von einem kleinen Stricke, der außen, „ganz in der Nähe von der Mitte ihrer längeren Seite zur Mitte“ angebracht gewesen sei. Dieser Strick unterstützte das Aufheben, das von außen nicht solcher Kraftanstrengung bedurfte, als wenn es von innen geschah. Bleiben wir dabei, daß die Thür mit Gras bewachsen, mithin auch mit Erde bekleidet gewesen sei, so haben wir uns die Kraftanstrengung, deren Bertha jedesmal bedurfte, noch immer als bedeutend zu denken. Setzen wir statt Gras Moos, so fällt die Erddecke weg, und die Fallthüre verliert mindestens drei Viertheile ihrer Schwere. Moos ist grün und Gras ist grün, ein Mädchen von Carolinens Art kann zwischen beiden kaum einen Unterschied gemacht haben.

Es war im höchsten Grade unvorsichtig, Carolinen jeden Tag an die frische Luft zu führen. Wäre diese Anordnung nach Carolinens Erzählung von ihren Entführern getroffen worden, so dürften wir nicht zögern, ihre ganze Geschichte für ein Märchen zu erklären. Aus ihren Worten geht aber hervor, daß die gutmüthige Bertha diese Erleichterung der Haft heimlicher Weise eintreten ließ. So oft Eleasar, der seine gewisse Stunde gehabt haben mag, erwartet wurde, kürzte der Spaziergang sich ab. Wir wollen hier nachholen, daß der Befehl Eleasar’s, Carolinen stets in ihrer Stube eingeschlossen zu halten, ebenfalls für das Vorhandensein eines geheimen Ausganges spricht. War blos die Fallthür da, deren Hebung der Gefangenen in ihren ersten Jahren unter allen Umständen nicht gelingen konnte, so hatte die Grausamkeit der engen Haft im Zimmer gar keinen Zweck. Durfte Bertha es bei jenen Spaziergängen auf die doppelte Gefahr einer Flucht und eines Entdecktwerdens ankommen lassen? Die Flucht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_040.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)