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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Am glänzendsten bewährt sich der Werth des Kleinen in der Natur, und wer auch nicht die Wunder der mikroskopischen Welt aus eigener Anschauung kennt, sie sind durch die populären Werke unserer Tage, auch durch verschiedene Artikel der Gartenlaube, einem Jedem zugänglich. Ueberdies gibt jeder Gegenstand in unserer Umgebung, jedes Geschehen in unserm Bereiche, die Blumen in unserer Fensterbank, die Vögel im Käfig, der Verkehr mit Speisen und Getränken etc. etc. jedem aufmerksamen Beobachter Gelegenheit, sich mit eigenen Sinnen von dem Werthe des Kleinen zu überzeugen. – Es ist zu beklagen, daß die Mehrzahl dies auf’s Wort hin blos – glaubt, um bei nächster Gelegenheit wieder zu zweifeln, anstatt sich zu überzeugen und in dieser Ueberzeugung zu eigenem Nutz und Frommen zu handeln.

Nirgends wird aber „das Kleine“ häufiger und leider mit größeren Nachtheilen unterschätzt, als auf dem Gebiete der Erziehung. Immer kehrt der Refrain wieder: „Ach, das ist ja so unbedeutend, das wird nicht schaden!“ – So erklärlich dies ist, da die Einwirkung auf die Seele sich dem Auge verbirgt, dem Kundigen sich oft nach langer Zeit erst, dem Unkundigen niemals offenbart: so verderblich und unheilvoll ist es aber auch.

Wer freilich unter Erziehung sich nichts Anderes denkt, als Befehle und Strafen ertheilen, der wird es nie begreifen. Die Erziehung ist aber die Arbeit für die Gesundheit und Reinheit der Seele im gesunden und kräftigen Körper. Der Grund, worauf sie fußt, ist die Natur des Menschen. Da die körperliche Erziehung aber durch die Artikel des hochverehrten Herrn Prof. Bock in der Gartenlaube so klar und gründlich uns an’s Herz gelegt ist, so darf hier nur von der seelischen Erziehung noch geredet werden. Ihr Grund ist die Natur der menschlichen Seele. Wie die Medicin, so ist die Erziehung empirische Wissenschaft und Kunst zugleich und der Erzieher sollte im vollsten Sinne des Wortes der Arzt der Seele sein. Da ist denn wohl nöthig, die Erscheinungen des menschlichen Seelenlebens auf ihren Ursprung zurückzuführen und die Einwirkungen auf die Seele in ihren Entwickelungen zu verfolgen. – Von diesem Standpunkte aus sind die „Fehler und Sünden“ der Jugend seelische Krankheitserscheinungen, deren Ursache man zu erforschen und durch deren Hinwegräumung man die Seele auf ihren Naturzustand zurückzuführen hat.

Einige Beispiele aus des Verfassers eigener Praxis mögen den Werth des sogenannten „Kleinen“ nachweisen und das vermeintlich Kleine als bedeutsam darthun!

Ein Knabe nicht unbemittelter Eltern, talentvoll und mit vorherrschend gutmüthigem Charakter, zeigte schon vom neunten Jahre an eine heftige Neigung für geistige Getränke. Durch allerlei Mittel, selbst durch Betrügerei und Diebstahl, suchte er solche zu erlangen und wurde häufig betrunken gefunden. Und woher dieser Abgrund sittlichen Verderbens in so früher Jugend? – Die Eltern, übrigens achtungswerthe Leute, sind durch ihr Geschäft abgehalten, speciell die Kinder zu beaufsichtigen – sie haben ein Gasthaus – haben wohl bemerkt, daß der Knabe sich die Tropfen aus den kaum geleerten Gläsern der Gäste sammelte, und hielten das für unbedeutend, und als er später sich an die Neigen wagte, da war auch das noch unbedeutend. Erst als er an die Flaschen im Schenkschranke sich machte, da schien es ihnen bedeutend genug, um einzuschreiten. Es ist aber nur zu gewiß, daß auch die strengsten Strafen ihn nicht bessern werden. In dem Hause seiner Eltern, unter den Augen von Vater und Mutter wird er vom Strudel der Leidenschaft fortgerissen und sehr elend werden. – Strenges Abhalten vom Kosten der Tropfen hätte dies verhütet.

Wie oft tritt Eltern und Erziehern die Unwahrheit, die Lüge so plötzlich entgegen, daß sie im höchsten Grade erstaunen. Es ist ihnen ein Räthsel, wie der sonst „so aufrichtige und wahrheitliebende“ Zögling so geschickt und so frech zu leugnen, zu lügen vermag. – Das Gefühl leitet uns richtig. Die Lüge und ihre Begleitung ist eine solche Abweichung von dem Rechten, das Natur uns in die Brust gegraben, daß die erste Lüge und eine Reihe Nachfolgerinnen sich auf der Stelle verrathen. – Die geschickte, freche Lüge setzt eine Gewohnheit, eine Uebung voraus, welche leider übersehen ist, weil man das Alles ja nur Kleinigkeiten nannte. – Hier die Beispiele einzeln anzuführen, würde zu viel Raum in Anspruch nehmen, aber wir müssen wieder darauf zurückkommen, wenn wir die Jugendsünden einzeln betrachten. – Auch Lügner werden nicht geboren, sondern erzogen und die Schuld liegt in den meisten Fällen in den Erziehern.

Welch’ einen Eindruck des Mitleidens und des Ekels erregt es, wenn Kinder sich vor jedem Dinge fürchten, schreiend fliehen oder zitternd nahen. Diese Furcht ist nicht unbedeutend; denn durch Schläge und Einsperren und andere Gewaltmaßregeln will man sie vertreiben. – Als aber für das kleine Kind jeder Platz, den es meiden sollte, einen „schwarzen Mann“ beherbergte, jedes Ding, das es nicht anfassen sollte, „beißend“ war, des Kindes Unvorsichtigkeit nicht, sondern der unschuldige Tisch etc., an den es sich gestoßen hattet bestraft wurde und die ängstliche Mutter bei jedem Aufschrei des Kindes einen ganzen Erguß von Mitleid und Trost aufwandte, da ward dem warnenden Freunde entgegnet: „das sind ja Kleinigkeiten, was können die schaden!“

„Es ist ja nur eine Kleinigkeit,“ wenn das kleine Kind ein paar Mal seinen Willen erhält, gegen den ausdrücklich ausgesprochenen Willen des Erziehers, man mag es ja solcher „Kleinigkeit“ halber nicht schreien lassen, sich nicht deshalb bemühen. Nach kurzer Zeit „ist es mit dem eigensinnigen Kinde nicht mehr auszuhalten,“ und da gibt’s dann Strafe über Strafe, welche nur zu oft nicht hilft, manchmal das Uebel verschlimmert.

Erstaunen und Schreck sind nicht zu unterdrücken, wenn wir die Arglist und Pfiffigkeit endlich erkennen, welche Kinder, und besonders Mädchen, in ihren „Tricks“ gegen Eltern, Geschwister, Dienstboten und Andere entwickeln. Das beifällige Lächeln bei den „kleinen allerliebsten Schelmenstreichen der Kleinen“ war ja auch eben nur „eine Kleinigkeit.“

Massenhaft sind in der That die betrübenden Beispiele, wo durch Nichtachtung des vermeintlich „Kleinen“ eben die Kleinen selbst verdorben oder doch leicht zu vermeidenden schmerzlichen Strafmitteln entgegengeführt werden. Das Angeführte mag genügen, um die denkenden Eltern auf das Kleine aufmerksam zu machen. Sie werden sich sehr bald überzeugen, daß ohne Aufmerksamkeit auf das „Kleine“ und also ohne große Mühe keine Erziehung möglich ist. In der Erziehung gibt es nichts Unbedeutendes. – Die Kinder sind klein, ihre Handlungen geschehen in dieser ihrer kleinen Welt und haben für sie dieselbe Bedeutung, als unsere Handlungen in unserer großen Welt. Was in dieser ihrer kleinen Welt sich ereignet, macht auf sie nicht den Eindruck des Kleinen, es erregt sie so stark und nachhaltig, wie uns die Ereignisse in der Welt der Erwachsenen. Der Erzieher muß den Charakter der Zöglinge erkennen. Dieser offenbart sich im Kleinen. – Der Erzieher muß die Anlagen, Talente und Neigungen seiner Kinder erkennen, um sie zu leiten, zu benutzen und endlich seinen Beruf zu bestimmen. Sie zeigen sich nur klein und im Kleinen. Je früher aufmerksam geworden, je früher erkannt, desto leichter und erfolgreicher die Einwirkung. Man klage nicht über Stümper in diesem oder jenem Berufe, diese könnten eher klagen über die Stümperei in ihrer Erziehung.

(Ein zweiter Artikel: „Muttersünden“ folgt nächstens.)


Noch einmal der „Leviathan“.

Das doppeleiserne Doppeldampf-Ungeheuer, das auf Verlangen mit mehr als 10,000 Pferdedampf- und 6500 Quadrat-Yards-Segelkraft die Reisen nach und von Australien mit der Geschwindigkeit des Sturmes und mit den Flügeln der Morgenröthe, mindestens in einem Fünftel der bisherigen Geschwindigkeit zurücklegen will, hat zu seiner ersten Reise mehr Zeit gebraucht, als jemals ein vom Stapel laufendes Schiff: über zehn Wochen zu einer blos 300 Fuß weiten und noch dazu bergabführenden Entfernung. Zuerst ließ es sich mit Hunderttausend-Centner-Lasten von Druck und Zug (hydraulischen Pressen und Dampfböcken,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_053.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)