Seite:Die Gartenlaube (1858) 130.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

hinauf, als sie sich von einer eigenthümlichen Furcht ergriffen fühlte. Ein leiser Schauer rann durch ihre Glieder; sie sah sich scheu um, gleichsam als ahne sie etwas Gefahrbringendes oder wenigstens Ungewöhnliches sich nahen. Aber der ganze Markt war still und leer, und das schwermüthige Plätschern des Wassers der einzige Ton, welcher an ihr Ohr drang. Oben angelangt, tauchte sie rasch mit übergebogenem Oberleib den Zuber in den ziemlich umfangreichen Wasserspiegel des steinernen Beckens, der ihr jetzt eben so ungemein unheimlich vorkam, daß sie fröstelnd die Augen schloß, aber in demselben Augenblick riß sie dieselben auch wieder mit einem lauten Schrei auf, und starrte zum Tod erschrocken in ein menschliches Antlitz, dessen kalte nasse Wange sie mit der Hand berührt hatte, und das nun unter dem Wasserspiegel hervorschimmerte.

Lieschen – so hieß das hübsche Dienstmädchen – war selbst so blaß geworden, wie der Mann, welcher da im Brunnenkasten steckte, und in welchem sie den Senator Kahlert erkannte, denselben Mann, mit welchem ihre Gedanken vor kaum einer Viertelstunde so angelegentlich beschäftigt gewesen waren. Sie zitterte vor Schrecken, aber sie verlor die Besinnung keinen Augenblick, vielmehr lief sie, das Gefäß schwimmen lassend, so schnell die Beine fort konnten, die Stufen hinab und quer über den Markt dem hochaufstrebenden und weit sich ausbreitenden „Grünen Baum“ zu, dessen Hausthorflügel sie nur angelehnt fand. Sie schlüpfte über den Hof und klopfte dort an ein abgelegenes Fenster. Bald zeigte sich ein verschlafenes Mädchengesicht; es war das einer jungen Küchenmagd.

„Komm um Gotteswillen schnell heraus, Marthe!“ raunte Lieschen dieser zu, „und zeige mir das Schlafzimmer des jungen Herrn. Ich muß ihm etwas Wichtiges sagen.“

Die Küchenmagd machte große Augen und murmelte etwas, das wie ein Scheltwort klang.

„Sei nicht thöricht!“ drängte die junge Magd. „Wenn’s nicht sein müßte, würd’ ich wahrlich nicht in der Nacht zu ihm begehren. Aber es hängt Leib und Leben davon ab, daß Du eilst. Ich muß ihm ein paar Worte in’s Ohr sagen, und bin sogleich wieder bei Dir.“

Das klang so ernst und dringend, daß Marthe nicht länger zauderte, vielmehr, von Neugierde gestachelt, im Nu an Lieschens Seite war.

„Was ist denn geschehen? Was hast Du vor, Lieschen?“’

„Das kann ich nur dem jungen Herrn Kahlert sagen. Wenn er Dir’s mittheilen will, kann mir’s nichts verschlagen. Ich aber darf’s nicht thun.“

Kopfschüttelnd führte Marthe die junge Magd die Treppe hinauf, über einen zu einer Thüre, an die sie stark pochte. Die Thür wurde geöffnet, ein junger schöner, kräftiger Mann sah verwundert fragend heraus.

„Da ist die junge Magd der Frau Kanzleiinspectorin nebenan, die gibt vor, sie habe Ihnen etwas Wichtiges zu sagen, und es leide keinen Aufschub. Wenn sie nicht wohl gescheidt ist, ich kann nichts dazu.“

Lieschen huschte in’s Zimmer und flüsterte mit einer bezeichnenden Pantomime nach der Thüre: „Die Marthe wird gewiß lauschen, und es wird Ihnen nicht angenehm sein, wenn ein anderes Ohr als das Ihrige etwas davon vernimmt, was ich Ihnen zu sagen habe, und die Sache hat die größte Eile.“ Der junge Mann erkannte selbst im ungewissen Nachtschein die bleichen, entstellten Züge des so unschuldig aussehenden, hübschen, schlanken Mädchens, und führte sie in ein anderes Zimmer. Hier brachte Lieschen ihren Mund in die Nähe seines Ohres und sprach leise: „Erschrecken Sie nur nicht, Herr Kahlert. Ihr Herr Vater liegt drüben im Brunnenkasten des Marktbrunnens; ich glaube aber, er ist noch nicht todt; denn ich Hab’ ihn erst vor einer Viertelstunde über den Hof gehen sehen.“

Der junge Mann war allerdings bestürzt, aber er faßte sich schnell und fragte besonnen: „Hat ihn außer Dir Jemand im Brunnen liegen sehen?“

„So viel ich weiß, nein!“

„Hast Du der Marthe davon gesagt?“

„Behüt’s Gott! Sonst wär’ ja nicht nöthig, sie im Lauschen zu hindern.“

„Du bist ein gescheidtes Mädchen, und es soll Dein Schade nicht sein. Jetz komm schnell mit mir. Du sollst mir helfen.“

Er warf einen Mantel um, nahm einen zweiten und das Bettlaken. Draußen stand Marthe wirklich noch.

„Geh’ gleich in Dein Bett!“ befahl ihr der Herr, „und laß Dich vor Tagesanbruch nicht außer Deiner Kammer betreten.“

Die Küchenmagd entfernte sich brummend, ging aber nicht in ihre Kammer, sondern, als die beiden Andern aus dem Hause waren, in die Gaststube, und schaute ihnen von da nach. Da sah sie denn, wie der junge Herr mit Lieschens Hülfe einen Menschen aus dem Brunnenkasten zog, in Laken und Mantel hüllte und über den Markt dem Hause zu trug. Nun wußte sie genug und sprang eilig in ihre Kammer.

Kaum war der junge Mann mit seiner Bürde auf seinem Zimmer angelangt, als er das Mädchen bat: „Nun, mein Kind, laufe in die Wohnung des Amtschirurgen Wandsberg in der Löberstraße, das Eckhaus der Magdalenenkirche gegenüber, schelle ihn heraus und sag’ ihm, ich ließ ihn bitten, unverzüglich mit dem Aderlaßzeug zu kommen, gleich hierher auf mein Zimmer und ohne Aufsehen. Vom Brunnen sagst Du ihm nichts; verstehst Du?“

Lieschen nickte klug und verständig und flog dann die Treppe hinab und über den Markt. Der junge Kahlert verriegelte die Thür, entkleidete und trocknete den Körper seines Vaters, legte ihn in’s Bett und rieb und bürstete ihn. Dabei dünkten ihm kaum einige Minuten verflossen, als ihn ein Pochen an der Thür benachrichtigte, daß der Chirurg schon da sei. Lieschen hatte Alles gut ausgerichtet. Es wurde eine Ader geöffnet, es wurden andere Versuche gemacht, aber nach wenigen Minuten erklärte der Chirurg, der Mann sei todt. Die Leiche wurde mit Nachtwäsche bekleidet und von den beiden Männern auf das Zimmer des Verstorbenen getragen, und in dessen Bett gelegt.

Als die Frau Senatorin, die Stiefmutter des Herrn Eduard Kahlert, mit ihren beiden Töchtern ausgeschlafen hatte, wurden sie mit der Trauerkunde überrascht, daß der Hausvater vom Schlage gerührt todt im Bette gefunden worden sei. Die Nachricht vom Tode des reichen Mannes verbreitete sich schnell in der Stadt, aber schon als die festlich gekleideten Bewohner derselben, dem Rufe der Glocken folgend, langsam der Kirche zuschritten, flog die Kunde leis von Mund zu Mund: der Senator Kahlert habe sich im Marktbrunnen ertränkt. Vor Abend wußte es die ganze Stadt, außer der Frau und den Töchtern des Selbstmörders, und nur der Sohn erfuhr es nicht, daß es Jedermann wußte. Er hatte es ja Lieschens Verschwiegenheit erkauft und ihr versprochen, ihr ein besseres Loos zu bereiten, wenn sie das Geheimniß treu bewahre, und sie hatte es so treuherzig versichert. Er hatte sie nach Namen und Herkommen gefragt und sie hatte ihm mit kindlicher Offenheit Alles, was er gewünscht, mitgetheilt.

Das Publicum machte seine Randglossen zum freiwilligen Tode des steinreichen Mannes. Man zählte seine Häuser, Felder, Wiesen und Wälder zusammen, man nannte große Summen, die er bei der Landschaft stehen habe; man lobte ihn als einen gutherzigen, mildthätigen Mann, der als Senator und Magistrat sich große Verdienste um die Stadt erworben, und man rühmte es vorzüglich, daß er die verschämte Armuth aus freiem Antriebe aufgesucht und ohne Prunk und Geräusch Gottessegen in die Häuser getragen habe. Merkwürdiger Weise erhob sich auch nicht eine tadelnde Stimme; man hatte nur Bedauern für den edlen unglücklichen Mann, der seit Jahren an Schwermuth gelitten und dessen Gemüthskrankheit in dem Verhältniß zugenommen, als ihm der „Grüne Baum“ goldene Früchte getragen hatte. Ueber die Ursache dieser Schwermuth hatte Niemand eine Vermuthung; man erklärte sie für Folge von Unterleibsbeschwerden.




II.
Die Frau des Rechtsanwalts.

Während die in den Kirchen versammelte Gemeinde das Auferstehungsfest des Erlösers beging, saß Eduard Kahlert in seinem verschlossenen Zimmer und las einen langen Brief, den ihm sein Vater hinterlassen und wahrscheinlich gestern Abend spät in das Schreibpult geschoben hatte. Die Gesichtsblässe des Lesers ging allmählich in ein unheimliches Aschgrau über, sein feuriges dunkelblaues Auge erlosch und aus seiner Stirn perlten große Schweißtropfen. Als sein flirrender Blick über die letzten Seiten lief, hob sich seine Brust wiederholt krampfhaft, seine Hände zitterten so stark, daß er die Blätter kaum erhalten konnte, und als er endlich fertig war, sank er in das Sopha zurück, bedeckte das Gesicht

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_130.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)