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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Sein Genie hatte auch hier wieder das Richtige getroffen, ohne viel nach den Vorschriften und alltäglichen Regeln zu fragen. Allerdings würden wir nicht jedem jungen Doctor den Rath ertheilen, es wie der alte Heim zu machen. Dazu muß man eben, wie er, ein geborner Arzt sein und denselben feinen und sichern Instinct besitzen, der nur wenigen Menschen gegeben ist.

Hufeland war auch mit dieser Antwort vollkommen zufrieden, da er den günstigen Erfolg eines so kühnen Verfahrens mit eigenen Augen sah; aber er schüttelte doch bedenklich mit dem Kopfe bei einem Wagstücke, das seiner eigenen Natur so fremd und zuwider war.

Es war bei dem kurzen Herbsttage schon dunkel geworden, als Heim, ermüdet von allen Anstrengungen und Mühen eines Arztes, nach seiner Wohnung zurückkehren wollte. Sein Weg führte ihn durch ein meist nur von armen Leuten bewohntes Stadtviertel. Wie er so durch die enge, schmutzige Straße ritt, fiel ein Weib seinem Pferde in die Zügel.

„Bester Herr Geheimrath!“ schrie die Frau. „Erbarmen Sie sich einer armen, unglücklichen Familie. Mein Mann liegt schon seit einem Vierteljahre an der Wassersucht krank, und wenn Sie ihm nicht helfen, so ist er und ich mit meinen Kindern verloren.“

Es bedurfte nicht erst einer so kläglichen Aufforderung, daß Heim sogleich der Frau Folge leistete und mit ihr ging. Eine verfallene Treppe führte ihn in eine jener elenden Kellerwohnungen, wie man sie in den Armenvierteln der größeren Städte zu finden pflegt. Bei dem schwachen Lichte einer kleinen Oellampe sah er die kahlen, weißen Wände, welche von Feuchtigkeit und Nässe trieften. Der ganze Hausrath bestand aus einem rohen Tische und einigen Stühlen. Im Hintergrunde lag auf einem grauen Strohsack eine Jammergestalt, ein Mann, dessen Beine gleich Kannen angeschwollen waren, dessen Augen aus dem gedunsenen, erdfahlen Gesicht kaum hervorschauten und mit ängstlich flehendem Ausdrucke sich nach dem eintretenden Arzte wandten.

Heim erkundigte sich theilnehmend nicht nur nach dem Befinden, sondern auch nach den näheren Umständen des Kranken. Er erfuhr aus dem Munde der geschwätzigen Hausfrau, daß ihr Mann von Profession Glaser und ohne sein Verschulden nach und nach verarmt sei. Seitdem er den Keller in einem erst neugebauten Hause bezogen, war er erkrankt und nach und nach wassersüchtig geworden. Die ganze Familie lebte in der bittersten Noth und dem Kranken fehlte es an allem Nöthigen, besonders an gesunder Kost und Medicin.

Heim hatte keinen Grund, diese Angaben, von denen er sich durch den Augenschein überzeugen konnte, zu bezweifeln. Obgleich an den täglichen Anblick von Unglück und Elend gewöhnt, war sein Herz noch nicht abgestumpft und voll Mitgefühl.

Der Zustand des armen Glasers schien ihm noch keineswegs so weit vorgerückt, um jede Hoffnung aufzugeben; aber die Möglichkeit einer vollständigen Heilung scheiterte hier, wie so häufig in der Armenpraxis, an der Mittellosigkeit und Dürftigkeit des Leidenden. Auch da war mit dem bloßen Verordnen eines Mittels gegen die Wassersucht nichts gethan; das sah der alte, gute Heim wohl ein. Ohne sich lange zu besinnen, zog er seine Börse aus der Tasche und gab diese der bekümmerten Frau.

„Das nehme Sie, Mutter,“ fügte er im populären Tone hinzu, „und miethe Sie sich und Ihrem Manne eine bessere Wohnung; in dem Kellerloch darf er keinen Tag mehr bleiben; dann hole Sie sich aus meiner Küche täglich das Essen für den Kranken. Ich hoffe, Ihren Mann mit Gottes Hülfe wieder herzustellen, und werde ihn so lange besuchen, als er mich braucht.“

Das Weib dankte mit heißen Thränen und wollte Heim die Hand küssen, was dieser aber nicht litt. Was der Brave versprochen, hielt er auch getreulich. Er sorgte für eine gesündere Wohnung, für eine nahrhafte Kost, für zweckmäßige Medicamente und all’ die Mittel, womit er dem armen Glaser auch in verhältnißmäßig kurzer Zeit seine Gesundheit wiederschenkte. Damit begnügte sich jedoch der edle Wohlthäter nicht, indem er darauf bedacht war, dem gewesenen Handwerker auch eine angemessene und einträgliche Beschäftigung zu verschaffen.

Zu diesem Zwecke wendete er sich an die Prinzessin Ferdinand, deren Leibarzt Heim war. Die selber höchst originelle Prinzessin stand mit dem originellen Doctor auf einem eigenthümlichen freundschaftlichen Fuße und ließ sich manche Absonderlichkeit von ihm gefallen. Sie stammte aus einer älteren Zeit und war gewöhnt, alle Leute mit „Er“ anzureden. Als sie damit umging, dem alten Heim ihre Gesundheit anzuvertrauen, machte er ihr einige Bedingungen, worüber die verwöhnte Dame nicht wenig erstaunte, da sie gewöhnt war, sehr von oben herab die Menschen anzusehen, und Wunder glaubte, welche Ehre sie Heim erzeigte. Sie hatte ihn damals rufen lassen, um ihm die ihm zugedachte Ehre anzuzeigen.

„Er soll mein Leibarzt werden,“ sagte die Prinzessin. „Ist Er es zufrieden?“

„Gewiß, königliche Hoheit; aber nur unter drei Bedingungen,“ antwortete Heim mit würdiger Ruhe.

„Und die wären?“ fragte die Prinzessin gespannt.

„Für’s Erste,“ fuhr er im ernsten Tone fort, „müssen mir Ihre königliche Hoheit versprechen, mich nicht per „Er“ zu tituliren; denn das bin ich nicht gewohnt, auch paßt es nicht für meinen Stand.“

„Das will ich Ihm, ich wollte sagen, Ihnen bewilligen.“

„Für’s Zweite kann ich nicht im Frack und Escarpins antichambriren und in Ihrem Vorzimmer warten. Meine Zeit ist edel und außer Ihrer königlichen Hoheit gibt es noch viele hundert Menschen, die meine Hülfe brauchen.“

„Das nenne ich offen gesprochen, aber Sie haben wohl Recht.“

„Zum dritten erwarte ich, daß Sie mich auch königlich bezahlen, da Sie eine königliche Hoheit sind.“

Diese letzte Bedingung galt dem bekannten Geize der Prinzessin, die jedoch keineswegs dem altem Heim seine dreiste Sprache übelnahm, sondern auf alle seine Bedingungen einging und seitdem seine beste Freundin und Gönnerin war.

Um dem armen Glaser zu helfen, wandte er sich wieder an die Prinzessin, bei der er von jener Zeit her unangemeldet Zutritt hatte.

„Was bringen Sie mir, lieber Heim?“ fragte sie ihn freundlich, als er eintrat.

„Haben Sie keine zerbrochenen Fensterscheiben, königliche Hoheit?“

„Was hat das wieder zu bedeuten?“

„Ich möchte gern einem armen fleißigen Glaser Arbeit verschaffen und bin entschlossen, wenn ich keine finde, selber die Fenster bei allen meinen Patienten einzuwerfen.“

„Das sollen Sie hübsch bleiben lassen; denn am Ende wird Ihnen die Polizei das Handwerk legen und sperrt Sie ein. Was soll aber Berlin ohne den alten, närrischen Heim anfangen? Lieber will ich dem Manne so viel Arbeit geben, als ich zu vergeben habe.“

„Schön! Aber königliche Hoheit müssen ihn dann auch zum Hofglasermeister machen.“

„Auch das, wenn Ihnen damit ein Gefallen geschieht.“

Die Prinzessin hielt in der That auch Wort und Heim’s Schützling hatte bald alle Hände voll zu thun und verdiente so viel und auch mehr, als er zum Leben nöthig hatte. – Einige Monate waren seitdem vergangen, ohne daß Heim den Glaser sah noch hörte. Er hatte nicht auf Dank gerechnet und seine eigene Erfahrung bestätigte das bekannte Sprüchwort: Der Arzt ist ein Engel, wenn man ihn braucht, ein Teufel, wenn man ihn bezahlen soll.

Nach seiner Gewohnheit ritt der alte Heim wieder eines Tages durch die Straßen Berlins. Vor einem Hause, über dessen Thür ein stattliches Glaserschild aus bunten Scheiben mit dem königlichen Wappen hing, sah er sich von einer Frau angehalten, deren Züge ihm dunkel bekannt erschienen.

„Herrjes!“ schrie das Weib. „Herr Geheimrath! Sie kennen mir wohl nicht mehr?“

„In der That, ich erinnere mich nicht, aber ich muß Sie schon irgendwo gesehen haben.“

„Natürlich! Ich bin ja die Frau von dem Hofglasermeister, den Sie curirt haben.“

„Das freut mich, aber Ihr Mann ist doch nicht wieder krank geworden?“

„I Gott behüte! Im Gegentheil, er ist jetzt gesund, wie ein Fisch im Wasser.“

„Und es geht ihm gut, wie ich hoffe?“

„Wir sind ganz zufrieden. Gott Lob! an Arbeit fehlt es nicht; wir haben alle Hände voll zu thun.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_150.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)