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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

von einem Erdbeben bewegt, ein dumpfes Rollen, ähnlich dem eines fernen Donners, erreichte ihr Ohr.

„Barmherziger Gott!“ schrie Lina. „Das ist’s! – Der’ Steiger! – Eduard! Die Männer!“

„Was ist’s?!“ hauchte Lieschen erbleichend.

„Was kann es sein?“ rief Aurelie außer sich.

„Sie sind verloren! Der schreckliche Steiger hat sie ermordet. Dieser Donner kam aus dem Schachte. Das ist eine Sprengung. Aber, jetzt darf nicht gesprengt werden. Es ist ein Verbrechen, eine Unthat des scheußlichen Menschen, ein höllisches Werk seiner Eifersucht, seiner Rache.“

„Schnell, Schwestern!“ sagte Aurelie. „Wir müssen der Gefahr in’s Auge schauen. Wir müssen uns rasch überzeugen, was geschehen und was zu thun ist.“

Und sie eilten, was sie vermochten, den Berg hinab bis zum Hauptmundloche des Schachtes am Abhange desselben. Hier war es schon lebendig geworden und wurde mit jeder Minute grauenhaft lebendiger. Eine Nothglocke nach der andern erhob ihren gellenden Ruf in’s Thal hinab, den Menschen zu verkünden, daß ein großes Unglück geschehen sei; Bergknappen und andere Leute stürzten bleich und mit Geschrei herbei; die Haspel im Mundloch rasselte und aus dem emporgestiegenen Kübel tauchten bleiche Häuer empor.

„Hülfe! Hülfe! Rettet!“ erscholl’s nun in wilder Verwirrung. „Was ist geschehen?“

„Der Steiger Leberecht Ambrunn hat den überhängenden Vorsprung der Fugger-Wand abgesprengt und die Herren drin im Elisabethenschacht verschüttet, lebendig begraben. Was Hände hat, muß arbeiten. Der Versuch, sie zu retten, muß mit der größten Anstrengung gemacht werden.“

„Es wird nichts helfen,“ ließ sich ein Anderer vernehmen. Das ist wenigstens eine vierzehntägige Arbeit, derweil’ sind sie zehn Mal erstickt und verhungert.“

„Wir müssen alle Kräfte anspannen.“

„Mündet nicht ein alter versperrter Stollen in den Elisabethenschacht? Wenn man dort einzudringen versuchte?“

„Das hat noch zehn Mal größere Schwierigkeiten; die alten Bauten sind meist zusammengestürzt, und wer kennt die allenfalls noch befahrbaren? Niemand von uns.“

„Wenn noch einer, so ist’s der alte Obersteiger Ambrunn. Der sitzt in strenger Haft.“

Keins dieser Worte ging den gemarterten Frauen verloren. Ihre Pulse flogen, ihre Spannung überstieg das Maß gewöhnlicher menschlicher Zustände bei weitem. Aber sie klammerten sich auch an jedes Wort, das vom leisesten Hoffnungsschimmer angehaucht war.

„Ihr Männer,“ redete Aurelie, „es gilt, Menschenleben zu retten, und das Eures Oberbergmeisters ist auch dabei. Alle Wege zur Rettung müssen versucht werden. Der Obersteiger muß die alten Bauten befahren; er muß zu diesem Behufe ohne Verzug in Freiheit gesetzt werden. Eilt in das Berggericht; wir drei Schwestern lassen die Herren des Gerichts um schnelle Losgebung des Obersteigers bitten.“

Unterdessen war die Menschenmenge und mit ihr Lärm und Geschrei und Verwirrung gestiegen. Das ganze Thal, alle Pfade zu den Bauten wimmelten von Menschen, viele mit Hacken und Schaufeln, aber Niemand wußte, was eigentlich Zweckdienliches zu thun sei. Ein Knappe trat zu den bebenden Frauen und sagte:

„Da kommt der Obersteiger schon, von den Gerichtsdienern begleitet. Auf sein eignes Verlangen läßt ihn das Gericht zur Hülfe herbeiführen.“

Die Frauen eilten mit Andern auf ihn los.

„Könnt Ihr helfen?“ fragte ihn Lina.

„Das wäre nicht geschehen,“ entgegnete er griesgrämlich, „wenn Deine Mutter – Ist Leberecht todt?“ unterbrach er sich selbst.

„Wir wissen’s nicht. Keiner hat ihn wieder gesehen.“

„Das hat er von dem Tage an vorbereitet, als ihm das Weib ihr Haus verbot,“ murmelte der Alte.

„Könnt Ihr helfen, Ambrunn?“ wiederholte Lina mit Nachdruck.

„Hier kann Niemand helfen, als – das Schachtgespenst,“ versetzte er mürrisch.

„Das Schachtgespenst!“ riefen hundert Stimmen mit allen möglichen Abstufungen des Entsetzens.

„Wenn’s nicht verhungert ist indessen,“ brummte der Obersteiger und ging ohne Zaudern weiter. Wenige, aber die drei Frauen folgten ihm. Auch sie waren von dem einem Worte erschüttert, aber nicht wie die Uebrigen. Endlich kamen sie bei einem alten Schachtloche an. Der Obersteiger haspelte den Kübel empor. Er war lange nicht gebraucht und seine Sicherheit erschien zweifelhaft. „Es hilft nichts!“ sagte der Alte. „Hinab, das ist der einzig mögliche Weg. Wer fährt mit mir ein?“

„Ich!“ riefen Aurelie und Lina zugleich, sonst kein Mann.

„Und ich begleite Euch!“ rief Lieschen muthig. Die drei Frauen umschlangen sich begeistert; ein göttlicher Strahl leuchtete aus ihren Augen.

„Durch Nacht und Schrecken, durch Noth und Tod!“ rief Aurelie. „Wohin auch, die Liebe führt und trägt uns.“

„Alles für den Geliebten!“ flüsterte Lina, und Lieschen umarmte Beide mit Thränen im Auge.

„Und wenn wir untergehen, so sind wir ja mit ihnen vereint. Ohne ihn könnte ich ohnedies nicht leben.“

„Hinab denn!“

„Ihr seid gerade die Rechten,“ sagte der Alte, ohne Verwunderung über die merkwürdige Begleitung. Er schnallte den Brodsack, welchen er trug, fester, zündete Grubenlichter an und gab jeder Dame eins, dann winkte er den Männern an der Haspel. Die Frauen traten mit ihm in den Kübel und umschlangen sich, und das Fahrzeug senkte sich langsam in die finstere Tiefe. Es war, als führe Charon mit den drei Grazien in die Unterwelt.




X.
Das hungrige Gespenst.

Nur begeisterte Liebe zur Rettung der theuern Häupter konnte den Muth finden zu dieser schauerlichen Fahrt. Nie hatten Frauen eine ähnliche Fahrt unternommen; aber wahre Liebe schreckt vor keiner Gefahr zurück. Der Kübel berührte den Boden. Der alte schweigsame Bergmann stieg aus und half seinen Begleiterinnen weiter. Aber welch’ ein Weg! Feuchter, unebener Boden, halb eingestürzte Wände und Decken, so daß sie zuweilen hintereinander herkriechen mußten, dann wieder weite, öde Höhlen und Hallen, Felsengestein, das überklettert werden mutzte, und dazu die schwere, verdorbene Luft, welche das Athmen erschwerte. Schweigend ging’s weiter durch immer andere Gänge, die abwechselnd stets dieselben Schwierigkeiten boten, eine Schreckensstraße. Kein Zagen wandelte die Frauen an. Liebe macht schwache Herzen stark. Endlich, auf einer freien Stelle, in welche mehrere Gänge mündeten, blieb der Bergmann stehen, steckte den gekrümmten Zeigefinger der rechten Hand in den Mund und ließ einen lauten, schrillen Pfiff ertönen, welcher seltsam an fernen Wänden wiederhallte. Unmittelbar darauf ließ er ein eigenthümliches Heulen, ähnlich dem eines wilden Thieres erschallen. Dann horchte er nach allen Seiten hin. Dieses Verfahren wiederholte er einige Male, bis von fernher ein schwacher Ton an ihr Ohr schlug. Der Obersteiger schlug die Richtung, woher dieser Ton gedrungen war, ein, indem er das Pfeifen und Heulen von Zeit zu Zeit ertönen ließ. Die Antworten wurden deutlicher und, sich mehr und mehr nähernd, nahmen auch sie den Charakter eines schauerlichen Geheuls an. Die Frauen erbebten vor diesen gräßlichen, kaum thierischen, geschweige denn menschlichen Lauten, aber ihr Muth wurde nicht dadurch erschüttert.

Plötzlich zuckte ein schwacher Lichtstrahl vor ihnen an der feuchten, dunkeln, von grünem Moder überzogenen Wand hin und gleich darauf erblickten die Frauen, welche einzeln hinter dem Bergmanne hergingen, ein phantastisches, gespensterhaftes, schreckliches Gebild in dem Gange. Grausiges Erstaunen fesselte ihre Füße an den Boden, ihre Augen in der außerordentlichen Erscheinung. Eine ungewöhnlich lange, spindeldürre Gestalt mit spinnebeinähnlichen langen Armen und Beinen, um welche, wie um dünne Stecken, ein armseliges, zerfetztes Bergmannskleid schlotterte, die dürren Hände mit den langen, fleischlosen Fingern wie spitze Vogelkrallen anzusehen, das Haupt von dünnem, langen, schneeweißen Haar in einzelnen Loden umflattert, von dessen unterer Partie ein langer, glänzend weißer Bart auf die Brust niederfloß, mit seiner scharf gebogenen, großen Nase, ebenfalls dem Kopfe eines Raubvogels ähnlich. Aber man vergaß diese Ähnlichkeit wieder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_171.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)