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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Vorfahren Jahrhunderte gekämpft: die Freiheit der Forschung und die Freiheit der Gewissen, nicht gänzlich zu Grunde gehen.

Von diesen Anschauungen geht auch Bunsen aus, welcher namentlich die Idee des allgemeinen Priesterthums in der protestantischen Kirche in den Vordergrund drängt.

Wir haben noch mit einigen Worten der wissenschaftlichen Thätigkeit Bunsen’s zu gedenken. Seine Leistungen auf dem Gebiete der Sprachforschung, Alterthumskunde, Philosophie und der gesammten Wissenschaft der Theologie reihen ihn den ersten der jetzt lebenden Gelehrten an. Seine Werke sämmtlich hier aufzuzählen, enthalten wir uns und erwähnen nur, außer den oben angeführten, das bedeutende historisch-philosophische Werk: „Egyptens Stelle in der Weltgeschichte“, ferner: „Ignatius von Antiochien und seine Zeit“, „Hippolytus und seine Zeit“, „die Zeichen der Zeit“ und „Gott in der Geschichte.“

Seit dem vorigen Jahre hat sich Bunsen aus dem Staatsdienste zurückgezogen, um ganz der wissenschaftlichen Muße leben zu können. Wir glauben jedoch nicht zu irren, wenn wir vermuthen, daß seine politische Laufbahn noch keineswegs abgelaufen ist, daß ihm vielmehr noch ein bedeutender Wirkungskreis vorbehalten bleibt, sobald die herrschende Strömung auf dem politischen und religiösen Gebiete sich erst verlaufen hat. Die Gnade des Königs (welcher es ausdrücklich wünschte, daß Bunsen den Septemberverhandlungen beiwohne), hat den verdienten Staatsmann und Gelehrten vor kurzem in den Freiherrnstand erhoben. Möge die neue Würde, welche seinem innern Werthe nichts hinzuzufügen vermag, eine neue Gewähr dafür sein, daß er niemals aufhören wird, ein besonnener, aber charakterfester Kämpfer für die Freiheit des Gewissens und für die Freiheit der deutschen Nationalität zu sein!





Die nervenkranken Damen.
Von einem gesuchten Damenarzte.

Kürzlich saßen wir einmal, zwölf befreundete Aerzte gleicher Schule (eine seltene, aber erfreuliche Erscheinung!), bei einem gemeinsamen Picknick beisammen. Die Unterhaltung drehte sich begreiflicherweise, da wir „unter uns Mädchen“ waren, viel um die Freuden und Leiden der Praxis. „Weiß der Himmel,“ sing einer an, „alle nervenschwachen Frauenzimmer hiesigen Orts hängen sich an mich!“ „Nein, an mich! – an mich! – an mich!“ rief es von allen Seiten der Tafel. Der Streit endete mit der Schlußfolgerung, daß die Zahl der Nervenpatientinnen wohl dutzendfach größer sein müsse, als sich die beschäftigtsten Aerzte selbst eingebildet hatten.

Wenn der geneigte Leser daraus schließen wollte, daß die Aerzte dieser Classe von Patienten überhoben zu sein wünschten, so würde er sich aber gewaltig irren. Denn dieselben machen die Würze der ärztlichen Praxis aus, welche ohne sie gar zu schaal oder handwerkerisch ausfallen würde. Dieser Wechsel von Klage und Freude, Hoffnung und Verzweiflung, Verehrung und Schmollen, Vergötterung und Hassen, diese immer neuen und immer gleichbedeutenden Zufälle und Anfälle gehören zu den Gemüthsbewegungen, welche dem praktischen Arzte endlich zum Bedürfniß werden und ihm seinen täglichen Rundlauf pikant machen. Dazu bilden diese Nervenkranken den lucrativeren Theil der Praxis und diese Damen selbst die Avantgarde zur Weiterempfehlung des Arztes, namentlich so lange sie im Stadium des ersten Enthusiasmus sind, wo sie ihren Arzt fast jeder Andern aufzwingen möchten. – Beide Theile sind einander gegenseitig unentbehrlich, mögen sie auch manchmal auf einander schmollen. Das kleine Gezänk erhöht ja die Liebe.

Was versteht man denn unter einer nervenschwachen Dame?“ fragt der Leser.

Eine nervenschwache Dame ist –ist – nein, so geht es nicht! Der Begriff ist nicht schulmäßig definirbar.

An den nervenkranken Frauenzimmern beobachtet man alle möglichen Nervenzufälle, welche überhaupt als Erscheinungen der gestörten Nervenfaser und in Nervenkrankheiten erfahrungsmäßig vorkommen können (also die verschiedenartigsten Störungen der Empfindung, der Bewegung und des Denkens), – und zwar an jeder Einzelnen solcher Nervenkranken ein gutes Theil von dergleichen Symptomen in den mannichfachsten Gruppirungen und Abwechselungen, – aber wohlgemerkt, ohne daß dabei ein wirkliches organisches Leiden des Nervenmarkes nachweisbar wäre. Das Gehirn, das Rückenmark, die Nervenstämme selbst, in der Regel auch alle zum Lebensbestand nöthigen Organe, sind dabei völlig oder verhältnißmäßig gesund. Die Nervenzufälle entstehen also hier durch bloße Nervenleitung, – durch Sympathie, wie man ehedem, durch Reflex und Irradiation, wie man jetzt sich ausdrückt.

Der Leser erinnere sich aus früheren Nummern der Gartenl. (1855. Nr. 4. ), daß das Nervensystem ein großartiger, den elektrischen Telegraphen ähnlicher Leitungsapparat ist, in welchem Millionen von feinen Röhrchen die Eindrücke der Außenwelt und die eigenen Körpergefühle nach einem Central-(Sammel-)Organe hinleiten, während ebensoviel Millionen wieder die im Centralorgane (Hirn und Rückenmark) aufgespeicherten und verarbeiteten Anstöße hinausleiten in die Bewegungsorgane, die Muskeln, wo sie sich in der Form von Reden oder Handlungen oder in der weniger auffälligen Bewegung des Herzens, der Athmungs-, Verdauungs- und anderer innerer Werkzeuge entladen, gleichsam Luft machen oder austoben. Dieser Entladungsvorgang kann zum Theil gehemmt oder verzögert werden durch die Macht des Gehirns, durch Willkür. Zum Theil aber macht er sich trotz derselben Luft in den der Willkür entzogenen Bewegungen des Herzens, der Därme etc., oder auch in unwillkürlichen, sogenannten krampfhaften Bewegungen äußerer Muskelgruppen. Ein in’s Auge geflogenes Körnchen bewirkt Zusammenkneipen der Augenlider mit Thränenfluß, eins dergleichen im Kehlkopf heftigen Husten, ein Stich in den Finger macht den Arm zucken, und wer sich die Hand verbrannt, zappelt mit dem ganzen Leibe. Das sind Beispiele dieses „Nervenreflexes“, wie die ärztliche Sprache es nennt; sie lassen sich leicht zu Dutzenden vervielfältigen. In diesen Fällen springt ein Nervenreiz, der die Empfindungsnerven betroffen hat, durch Vermittelung der Centralorgane auf gewisse Bewegungsnerven über und erregt in den dazu gehörigen Muskeln Krampf. Dies ist der gewöhnlichste und bekannteste Fall. – Es kann aber der Reiz auch von einem Empfindungsnerven auf den andern dergleichen überspringen: ein heftiger Stoß gegen das Knie oder einen noch empfindlicheren Theil macht, daß wir die Ohren klingen und „die Engelchen singen“ hören; eine Gallenerregung oder Magenverderbniß weckt einen schlummernden Zahnschmerz; ein Gallensteinkranker fühlt Schmerzen in der Schulter; der Spulwurm im Dünndarm bewirkt Kribbeln in der Nase. – Ja, der Reiz kann sogar zur Hemmung und Lähmung für gewisse Bewegungen oder Empfindungen werden, wie wir sehen, daß eine heftige Angst unempfindlich gegen äußerliche Schmerzen macht oder ein heftiger Schreck das Herz zum Stillstehen bringt.

Diese vier genannten Grundformen der unwillkürlichen, durch Nervenreflex (Ueberstrahlung, Irradiation) bedingten Nerventhätigkeiten: Reizung der Empfindungen (Schmerz u. ähnl.) oder der Bewegungen (Krampf), Lähmung der Empfindungen (Unempfindlichkeit) oder der Bewegungen (Lähmung im engeren Sinne), sind es nun auch, welche bei den sogenannten nervenkranken Frauen auftreten, theils in den niederen, theils in den höheren (dem Denken dienenden) Gebieten des Nervensystems. Das Wesen der sogenannten Nervenschwäche besteht eben darin, daß diese unwillkürliche Nervenleitung, dieser Nervenreflex allzuleicht, allzurasch, allzuheftig erfolgt.

Die Ursachen und Quellen dieser krankhaft erhöhten Reflexreizbarkeit vieler Damen können sehr verschieden sein. An sich ist der weibliche Organismus geistig und körperlich (was wir Mediciner bekanntlich nicht trennen) zarter und empfindsamer eingerichtet und durch seine sociale Stellung gefühlvoller, d. h. mehr daran gewiesen, seine Gefühle in sich zu bergen und anzuhäufen. Bei den europäischen, sogenannten civilisirten Völkern ist die gesammte Erziehung und Lebensbahn der Frauen, wenigstens der gebildeteren und städtischen, dahin gerichtet, diese Empfindungsfähigkeit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_177.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)