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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

über das natürliche Maß zu steigern und auf Kosten der Thatkräftigkeit zu überfeinern. Man will die Frauen und Mädchen einerseits so feinfühlend und empfindsam wie nur immer möglich machen und verhindert andererseits durch die übertriebenen Begriffe vom geselligen Anstand, besonders durch das unglückliche „es schickt sich nicht,“ die natürliche Ausströmung und Ableitung dieser Empfindungen in Bewegungsacte, d. h. in freie Tätigkeiten und Handlungen. Man verwechselt Thatkraft mit Rohheit, nützliche Beschäftigung mit erniedrigender Arbeit. Eine Menge der heutigen Frauen sind genöthigt, ihr Leben mit Unthätigkeit oder nutzlosen Tändeleien hinzubringen. Schon das Mädchen wird gewöhnt, die natürlichsten Regungen, sogar die unabweisbarsten Körpertriebe zu unterdrücken, während der Knabe, Jüngling und Mann immer (wenn er nur will und nicht von Haus aus feige ist) reiche Gelegenheit findet, sich auszuarbeiten, seinen Gefühlen Luft zu machen und seine Triebe (sogar bis zum schädlichsten Uebermaß) austoben zu lassen. Eine Menge Frauen sind genöthigt, zeitlebens der Ehe zu entsagen oder sich erst spät oder ohne Theilnahme des Herzens, oft ohne Aussicht auf Kindersegen zu verheirathen, also gerade in derjenigen Lebensaufgabe, welche das ganze Sein des Weibes beherrscht, zeitlebens unbefriedigte Gefühle in sich zu verschließen. Darf man sich nun wundern oder darüber spötteln, wenn man eine Unzahl von Frauenzimmern unserer Zeit und unserer Lande mit krankhaften Empfindungen (wie eine elektrische Batterie) überladen findet und diese Empfindungen sich beim leisesten Anstoß in krankhaften Nervenreflexen, in Krämpfen, Schmerzen, Lähmungen oder geistigen Verkehrtheiten Luft machen? Gewiß nicht!

Sehr oft aber ist die Quelle der übertriebenen Reflexreizbarkeit einer Nervenkranken örtlicher Art, indem ein Kranksein eines einzelnen Organes im Körper, gleich einem insgeheim fortwährend stachelnden Dorne oder Splitter, im Innern des Körpers die Nerven reizt, welche diese Eindrücke dem Centralorgan (Hirn und Rückenmark) zuströmen lassen. Man denke sich Jemand, der eine wunde, fortwährend schmerzende Stelle an sich hat und doch jede Schmerzensäußerung verbeißen muß, – oder ein Roß, das streng im Zügel gehalten wird, während ihm das lockere Geschirr fortwährend an die Beine schlägt oder ein Hufnagel in’s weiche Fleisch drückt; – wundert man sich, wenn in solchen Fällen die belästigende Empfindungsfülle plötzlich in Toben oder Krampf ausbricht? Nun, ähnlich ist der Zustand mancher Hysterischen, die ihr eigentliches Körperleiden nicht zur Schau tragen oder bekennen dürfen oder können.

Besagtes Körperleiden betrifft nun sehr häufig (aber keineswegs allemal) das innere Gebärorgan (den Uterus, die Hystera) und dessen Anhänge. Insofern hat die älteste Medicin nicht Unrecht, wenn sie die fragliche Nervenkrankheit Hysteria, d. h. die Mutterkrankheit, Mutterstaupe nannte, daher diese Classe von Damen noch heute allgemein den Namen „Hysterische“ erhalten. Die Art der organischen Krankheit kann hierbei eine sehr verschiedene sein: Blutanschoppung, schleichende Entzündung und deren Ausgänge (Katarrhe, Schleimflüsse, Geschwürchen, Verdickungen, Verhärtungen), Umbeugungen und Form- oder Lageveränderungen dieses Organes kommen am häufigsten und in den mannichfachsten Combinationen vor. Das Uebelste dabei ist, daß diese organischen Erkrankungen sämmtlich nur durch gewisse technische Untersuchungen, welche natürlicherweise jedem Frauenzimmer im höchsten Grade zuwider sind, erkannt werden können. Deshalb vertrauen sich solche Patientinnen gewöhnlich erst Jahre lang den Hebammen an, welche doch von diesen Krankheiten und ihrer Erkenntnis nicht das Geringste verstehen, ja sogar mit Willen in den Hebammenschulen darüber in Unwissenheit erhalten werden, um sie am Pfuschen zu verhindern; oder sie gehen erst zu jenen gewissenlosen Charlatanen (mit oder ohne Doctorhut und Titel), welche curiren, ohne untersucht zu haben. Natürlich wird dabei ihr organisches Uebel immer schlimmer und auch das Nervensystem immer reizbarer, da sowohl das Verfehlen der weiblichen Lebenszwecke, als das Grübeln darüber und die Notwendigkeit, dies Alles geheim zu halten, eine immer höher steigende Anhäufung von Empfindungsreizen in den Centralorganen herbeiführen muß.

Von anderen Organen, welche zu hysterischen Zufällen Anlaß geben, sind am häufigsten die der Verdauung schuld; mancherlei Störungen derselben, am häufigsten Obstruction, Gasanhäufung (woher der alte Name Vapeurs für diese Nervenzufälle), Würmer, manchmal Magengeschwüre, Leberschwielen, Gallensteine und andere Leberübel. – Sehr oft sind die ausbrechenden Krämpfe nur durch allzulange, willkürlich zurückgehaltene Ausleerungen hervorgerufen! – Seltener geben die Brustorgane Anlaß: Herzübel, Lungentuberculose. – Daß das Rückenmark selbst mit jenen Nervenzufällen in inniger Beziehung steht, wurde schon oben erwähnt. In neuerer Zeit fand man, daß bei solchen nervenkranken Damen in der Regel ein oder mehrere Wirbel (am häufigsten der vierte bis sechste Rückenwirbel) beim Druck auf dessen Dornfortsatz schmerze: man nannte dies Spinalirritation und hielt es für ein Zeichen einer bestimmten Art von Rückenmarksaffection, welche mit Hysterie gleichbedeutend sein sollte. Letzteres hat sich nicht bestätigt, aber die Thatsache der Wirbelempfindlichkeit kann man fast bei allen Hysterischen auffinden. – Ein unkräftiges, wässeriges Blut (Bleichsucht) ist hier oft vorhanden und beeinträchtigt jedenfalls die Ernährung und Kraft der Nervenmasse selbst.

Die Zufälle, durch welche sich jene übermäßige Reflexreizbarkeit äußern und entladen kann, sind, wie schon oben berührt, äußerst mannichfach. Sie ahmen eine Menge anderer, wirklicher Krankheiten nach. Derartige „hysterische Scheinkrankheiten“, wie man sie wohl mit gewissem Rechte nennen kann, sind z. B.: fallsüchtige oder starrkrampfartige Krämpfe, Athemnoth und Stillstand der Athmungsmuskeln, Zuschnürungen in der Kehle (dahin die allbekannte „hysterische Kugel“ im Hals, der Globus hystericus), schlagähnliche Anfälle, Ohnmächten bis zu Scheintod, Lähmung einzelner Glieder (oft von großer Hartnäckigkeit und später doch einer Bagatelle weichend), Unempfindlichkeit der Haut (oft auf großen Strecken und so völlig, daß man selbst Nadeln durchstechen[1] und starke elektrische Funken hindurchschlagen kann, ohne den geringsten Schmerz zu erregen), geistige Verzückungen und somnambule Zustände, Schmerzen in den verschiedensten Organen (so daß selbst der geübte Arzt in Zweifel gerathen kann, ob nicht z. B. ein Magengeschwür, eine Brust- oder Bauchfellentzündung im Entstehen sei), hartnäckige, krampfhafte Hustenanfälle bis zur Schwindsuchtsähnlichkeit (die Wahnschwindsüchtige, Gartenlaube 1857. Nr. 19.), Herzklopfen und andere Herzzufälle bis zur täuschenden Ähnlichkeit eines organischen Herzfehlers u. dgl. m. Um diese hysterischen Zufälle, und besonders die häufigsten derselben, die hysterischen Krämpfe, von den ihnen täuschend ähnlichen wirklichen Krankheiten (z. B. wirklicher Fallsucht, wirklichem Brustleiden) zu unterscheiden, achtet man darauf, daß selten bei ihnen alles Bewußtsein ganz fehlt („der Hecht war blau!“ und die Scheintodte erwacht mit einem Male!), daß schon beim Eintreten des Anfalles Bewußtsein und Ueberlegung (z. B. mit Anstand zu fallen) deutlich obwaltet, daß die Pupille gegen Licht, die Nase gegen Riech- und Niesmittel empfindlich bleibt (darum hält man verbrannte Federn vor die Nase, zur Abkürzung des Krampfanfalles), daß trotz des allgemeineren Krampfes einzelne Muskeln (und wären es auch nur die der Augäpfel) dem Willen noch gehorsam bleiben, daß die Symptome oft schnell wechseln, ohne solch’ eine regelmäßige Reihenfolge, wie bei den ähnlichen Krankheiten nichthysterischer Personen, daß heute Krämpfe, morgen Nervenschmerzen obwalten, daß Gemüthsstimmungen (der verweigerte und der gekaufte Kaschemirshawl!), Witterung, Körperdisposition (z. B. Eintritt oder Vorhandensein gewisser Ausscheidungen) vom entschiedensten Einfluß auf das Entstehen und das Vergehen dieser Anfälle sind – und dazwischen Tage, Wochen und Monate lang treffliche Gesundheit bestehen kann. Ueberdies merkt jeder Geübte, auch außer den hysterischen Anfällen, einer solchen Person wohl an, daß sie sehr reizbar und impressionabel, mit Krankheitsgefühlen oder Gemüthserregungen überladen und zu ausführlichen Beschreibungen ihrer verschiedenen Leiden geneigt ist. In der That ist das sich Ausklagen, auch wohl sich Ausweinen das beste Mittel, womit solche Patientinnen sich Luft machen können; daher ihr Arzt auch große Geduld im Zuhören besitzen muß. Schreibt man die gehörten Klagen Tag für Tag auf, so gelangt man oft schnell zu der Ueberzeugung, daß es immer neue und unbeständige, daher unmöglich auf ein bestimmtes Einzelleiden zurückführbare sind. Wenn

überhaupt nach dem Ausspruche eines alten Dichters Wandelbarkeit

  1. Hierher jene mehrfachen berühmten Fälle von Betrügerinnen, welche sich Hunderte von Nähnadeln unter die Haut einbrachten.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_178.jpg&oldid=- (Version vom 10.5.2022)