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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Battery, am obern Ende des Castle-Gardens (eines anmuthigen Parks an der New-Yorker Bai) bedienen kann.

Vater und Mutter R., ein etwa achtjähriges Töchterlein, das einen frischen Rosenschößling in einem weißen Handkörbchen verwahrte, und ich setzten uns an einem schönen Maitage gegen zehn Uhr Vormittags in einen Omnibus, der uns von der Zweiten Straße aus durch die Bowery, Chathamstreet, am freundlich gelegenen Park der City-Hall vorüber, auf die New-Yorker Paradestraße, den Broadway, brachte, und von da an die Brooklyner Fähre in der Nähe von Castle-Garden.

Nahe am Landungsplatz in Brooklyn stehen gleich ganze Reihen Omnibus, die, extra für die Greenwood-Passagiere bestimmt, ihren Fahrplan etc. an beiden Seiten des Dachgesimses mit großen Buchstaben in Oelfarben aufgeschrieben haben. Wir waren bald eingestiegen und fuhren in Gesellschaft von Amerikanern, Männern, Frauen und Kindern, theils schon durch Trauergewänder, mitgeführte Blumenkränze, Blumenscherben etc. als Wallfahrer der Gräber bezeichnet, theils mit andern, die blos zu ihrem Vergnügen denselben Weg zu machen schienen. Auf der schönen breiten Straße, die rechts an niederem etwas ödem Sumpfland des nahen Hudsons über etliche Holzbrücken, und links an grünem Garten- oder Hügelland vorüberführt, rauscht und wogt ein frisches Leben von Wagen, Reitern und Lustgängern; ein Omnibus begegnete dem andern, oft vollgeladen bis auf’s Dach, und die meisten im Hinweg Blumen und Blumengefäße, Baum- und Strauchsetzlinge mit sich führend, zum Schmucke irgend eines geliebten Grabes bestimmt.

Angekommen am Standplatz der rückfahrenden Omnibus, steigt weitaus die Mehrzahl aus dem Wagen, um die kurze Strecke bis zum wirklichen Eingang des Friedhofs zu Fuß zu machen, vorerst aber, nach einer allgemeinen Sitte der Greenwood-Wallfahrer, sich an der frischen krystallreinen Quelle in der Nähe der Straße zu laben, im Schatten der Bäume und des auf Säulen ruhenden Brunnendaches etwas zu rasten.

Ganz nahe sind Restaurationen geöffnet; aber selten gibt ihnen ein Pilger den Vorzug vor der luft- und kostenfreien Naturbewirthung am Brunnen, als stände diese Quelle und der Trank daraus in irgend einer geheimnißvollen Beziehung zum heiligen Gang auf den Friedhof. Es führen offene Stufen zum Brunnenstock, und fortwährend stehen Gläser bereit für die Gäste, wo Einer dem Andern, namentlich Frauen und Kindern gegenüber, gern gefällig ist zu dienen durch etliche Züge am leichtbeweglichen Pumpwerk.

Die Straße links leitet zum Friedhof, und im Vorüberwandeln erblickt man am rechten Stand des Weges eine Werkstätte mit etlichen Steinmetzhütten, wo gleichsam ein offener Markt von Grabsteinen in allen möglichen Formen, je nach Bedürfniß und Geschmack, die Vorübergehenden zum Kaufe ladet. Noch wenige Schritte an ein paar Gärten und Gartenhäusern vorüber, so stehen wir am eigentlichen Eingang zum Friedhof. Hier erhebt sich ein dunkelbraunes massives Gebäude, das in der Mitte seines unteren Theiles von einer Durchfahrtshalle gleichsam durchbrochen ist, zur Passage für Wagen und Reiter.

Das Erste, was uns in die Augen fiel, nachdem wir den Thorweg durchschritten und dabei unsere Karte abgegeben, waren rechts frische Grasflächen und sanft ansteigende laubgrüne Hügel, und hoch auf einer hervorstechenden Waldhöhe eine Art Villa, das Wohnhaus des Inspectors; links eine Thalfläche, in deren Mitte ein klares, stilles, kaum merklich fließendes Wasser, an dessen Ufer das an ein Kirchengebäude mahnende Maschinenhaus, um zeitweise die zerstreuten Springbrunnen zu speisen. Ganze Schaaren von weißen Tauben flogen hin und wieder, und fielen wie große glänzende Schneeflocken oder fliegende Lilienkelche zwischen das Laub- oder Wiesengrün, zum kurzen Rasten und Spielen.

Wir hielten uns links und passirten etliche Ueberbrückungen, und je weiter wir vordrangen, öffnete sich unsern erstaunten Augen, die immer den „Kirchhof“ suchten, eine wunderbare Parkanlage der mannichfaltigsten An- und Aussichten, im lieblichsten Wechsel von Thal und Hügel, Gras- und Blumenoasen, Bächlein und Seeteichen. Sonnenfreie und dunkelschattige Stellen, Fernsichten und heimliche Blätterklausen, offene Lustwäldchen und labyrinthische Baumgänge, Rosen- und Fliederbüsche, Trauerweiden und Cypressen, Linden und Cedern mischten ihr reizendes Formenspiel, tauschten ihre erfreuenden Lichter und erquickenden Schatten, und mitten aus dem Baum» und Blumengewimmel, bald von der Höhe herab, bald von der Tiefe herauf, zerstreut oder dichter aneinander gereiht, schimmerten und glänzten die blendendweißen Marmordenkmale mit ihren Spitzen und Kuppelformen, mit ihren vielfarbigen Glaskugeln und Goldkreuzen, gleich den Gebilden eines Feentraums.

Gelbsandige Fahr- und Reitwege, Lustpfade laufen nach allen Richtungen, auf und ab, in allen denkbaren Schlangenwindungen, bald in düsteres Waldesdunkel, bald auf sonnenbestrahlte Grasflächen, zu versteckten geheimnißvollen Flüsterstellen, zu freien weiten Aussichtspunkten führend; und von diesen wieder herab in’s engfriedliche Thal, wo Grabstätten der Menschen wie ewige Blumengärten und die Schrecken des Todes alle, in der Wirklichkeit wie im Gedanken, unter tausend Rosen und poetischen Zauberlichtern so wunderbar verhüllet liegen.

Der in Amerika sonst so seltene Vogelgesang, hier in den stillen Räumen des Friedhofs ist auch er wieder heimisch, und die hellen wie die zwitschernden Stimmen fließen doppelt lieblich in’s deutsche Herzohr, das sie besonders im Anfang des fremdgestalteten Lebens, in den Stunden des Heimwehs oft schmerzlich vermißt.

Die mich begleitende Familie hatte vor Allem ein Interesse, die Kindergräber zu besuchen, und so stiegen wir mit dem Vorhaben, Alles nur flüchtig Gesehene und bei Seite Gelassene, auf dem Rückwege um so besser zu genießen, links eine Anhöhe hinan, an deren Fuß ein silberner Wasserspiegel ausgebreitet lag, zu dem sich eine ganze Allee von Trauerweiden hinab und unten im Kranz um das Ufer des Teiches zog. Ruhesitze, im Schatten der Trauerweiden zerstreut, luden zur Rast, zu elegischen Betrachtungen und Stimmungen unwillkürlich ein. Doch wir weilten nur flüchtigen Blickes darauf.

Angelangt auf einer großen Hügelfläche, nach den Seiten etwas dachförmig sich neigend, standen wir vor den unzähligen Reihen der Kindergräber, eins an’s andere, wie Pflanzen- und Blumenbeete in einem weiten Gartenfelde, sich anschließend. Wo keine vorragenden Grabzeichen oder leicht unterscheidbare Merkmale zu dem gesuchten Grabe leiten, kann allein die Lotnummer, die einen ganzen District umfaßt, neben der einzelnen Grabnummer zum Ziele führen. Und doch hat man oft lange zu suchen, denn die Nummern steigen in die Tausende. Neben den alten Abtheilungen entstehen immer wieder neue und erschweren das Suchen, so lange weiter Nichts als kleine Nummerpfähle oder Nummerbretchen die einzelne Schlummerstätte bezeichnen. Das Grab, das wir suchten, lag innerhalb der Lotnummer 4558 und seine Reihennummer in einer ganz neuangelegten Gräberreihe war 148. Der Vater hatte sich die Stelle wohl gemerkt und bald war das Rosenstöckchen auf dem kleinen Hügel dem todten Liebling zu seinen Häupten gepflanzt, und es fehlte ihm, dem ersten Opfer aus der Familie in der fremden Erde, zur ersten Weihe nicht an Thränen der Mutter und des Schwesterleins.

Allgemein gelten die Kindergräber, die doch äußerst selten mit Denktafeln und Grabschriften verziert sind, für das Interessanteste und Schönste in der meilenweiten Todtenstadt, und wer blos das gewöhnliche amerikanische Marktleben aus der täglichen Erfahrung kennt, fühlt sich über alle Maßen überrascht, hier auf den Kindergräbern soviel Herzwärme und Phantasie, ein tiefpoetisches Gemüthsleben entwickelt zu sehen. Mancher findet es fast unglaublich und möchte gern an bloße Nachäffung einzelner seltener Beispiele denken, oder sieht sich auf einmal in eine Welt versetzt, von der er schwören wollte, sie könne Alles, nur nicht amerikanischen Ursprungs sein. Aber was wir sehen, ist ja hauptsächlich ein Ausdruck des Muttergemüths, und die nähere Erwägung dieses Umstandes mag allmählich auch den Ungläubigsten auf die Spur einer natürlichen Erklärung führen. Abgesehen von der kranken Sectenschwärmerei, die wie eine Art religiöser Hektik das amerikanische Volk und namentlich seine Frauen beherrscht, – oft bis zum Grade einer wehthuenden Entstellung eines sonst verständigen und liebenswürdigen Weibes, – hat Amerika ausgezeichnete Mütter, wie ganz besonders im wohlhabenden Farmerstande, so wie auch in mittleren Bürgerkreisen der Handwerker, Kaufleute und Geistlichen, namentlich Quäker, Unitarier, bis hinauf in die höchsten Regionen der Großhändler und Staatsmänner. Es ist eine bekannte Thatsache, daß in Amerika im Allgemeinen, wie verkehrt es auch in mancher Hinsicht geschehen mag, bei Weitem mehr Geld, Zeit und Sorgfalt auf die geistige und sittliche Ausbildung der Mädchen verwendet wird, als auf jene der Knaben, wo schon früher das einseitige, praktisch geschäftliche Interesse jedes andere absorbirt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_182.jpg&oldid=- (Version vom 6.12.2021)