Seite:Die Gartenlaube (1858) 228.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

– sie ist ja auch nicht ganz arm – und ohne Schwindel – was könnte diese Summe!“

Diese letzten Worte seufzt er mehr, als daß er sie spricht, und dennoch wird der Anflug von Freude, welchen wir schon vorher auf seinem Angesicht bemerkten, ein warmer Strich von Begeisterung. Fort, fort läuft er jetzt, rasch geht’s aus dem Thale den Berg hinaus, – Geburtstagsfreude, Geburtstagshoffnung ziehen unter der rothen Abendsonne funkelnd durch das alte, kindliche Herz.

Und er kommt an das letzte Haus des Dorfes, – er steigt die Treppe hinan, – er klopft, er tritt hinein, die Fensterscheiben glühen in der Abendsonne, – Mathildens Wangen in Erschrecken und Freude, in der Sonne der Erinnerung, der Sonne, welche nicht untergeht. Er streckte ihr die Hand entgegegen.

„Ist mein Geburtstag heute, mein neunundsechzigster, – mußte kommen, Mathilde!“ sagte der Alte nach Gruß – „mußte kommen, da Du nicht kommst, hatte Dir geschrieben, Du möchtest wieder eintreten, – geschrieben, wo Alles noch gut stand, – jetzt steht es schlecht, Mathilde, da wirst Du vollends nicht kommen, – weißt wohl, wie es steht? – aus dem Bau nichts, mit den Maschinen nichts, mit der Braut nichts, – Schwindel, Schwindel!“

Er seufzte und sprach dann weiter:

„Haben zwei Drittel der Arbeiter entlassen, können blos solche brauchen, welche nicht augenblicklich Geld brauchen, – bezahlt wird ehrlich, nur nicht sogleich, dachte da an Dich, Mathilde, – und nicht deshalb allein, ich dachte an Dich auch in anderer – wirst wohl nicht kommen?“

Mathilde stand gebeugt, – unter schmerzlichem Lächeln schüttelte sie ihr Haupt.

„Also nicht, nicht, Mathilde,“ klagte der Alte; „schlimme Antwort für mich, hatte einige Hoffnung vorhin, sah hinüber nach den abgeblühten Beeten rechts und links, – wurden gerade eingehüllt in Stroh, – da dachte ich an Dich, an Alles, – an das Blumenbeet links, Mathilde, – und ich machte mich auf, ich ging, – aber Karl weiß nichts davon, Mathilde, – ich ging still, still, – will auch still bleiben, da Du nicht kommst.“

„Kommen nicht,“ sprach leise Mathilde, „aber wenn ich helfen könnte, –“

Die Fenster glühten roth, – die Wangen noch röther, – sie erhob das Haupt, ging, schloß die bunte Truhe auf, gab dem alten Herrn einen Bogen und sprach:

„Mein Onkel wird Ihnen die Papiere sofort aushändigen; ich will an ihn schreiben oder selbst in die Stadt gehen.“

Der Bogen aber enthielt die schriftliche und untersiegelte Erklärung, daß der Onkel fünftausend Thaler in preußischen Staatsschuldscheinen zur Aufbewahrung von Mathilden übernommen habe und zur Rückgabe jeden Tag bereit sei.

Als der alte Herr gelesen, zitterte der Bogen in seiner Hand. Dann stand er eine Weile, – er konnte nicht sprechen, – und als aus seinen Augen einige Thränen auf den Bogen fielen, da faltete er denselben zusammen, steckte ihn ein, reichte schweigend dem Fabrikmädchen die Hand und eilte fort.

Draußen aber auf dem kleinen Vorsaal blieb er stehen, lehnte den Kopf an den Essensims und weinte laut und rief:

„Karl, o Karl! als sie heimlich fortging, hast Du gerührt und liebend gesagt: „sie handelt groß und schön!“ und nun, und jetzt – Karl, o Karl! o, immer größer, immer schöner! – fort, fort mit dem Schwindel! o komm, mein Junge, Du liebst sie ja, ’s ist Dir ja schwer an’s Herz gegangen! – „Groß und schön!“ – immer größer, immer schöner!“

Noch lange stand er weinend am Essensims, – sprach in seiner Weise noch Manches aus dem überfließenden Herzen mit überfließenden Augen, sprach’s laut genug, – und drinnen hörte man’s, – drinnen weinte es leise.

Als der alte Herr heim kam, war das Abendroth hinabgebrannt am kalten, grauen Decemberhimmel, aber bald brannte ein schönes Morgenroth auf, – der alte Herr sprach mit dem Sohne, und in dem aufgegangenen Morgenroth feierten Beide noch den Geburtstag, – glücklich, entschieden, Brust an Brust.




Eine andere Geburtstagsfeier wurde zwei Wochen später von vielen Millionen begangen. Auch in einem der Fabriksäle leuchtete ein Christbaum, wie dies schon in früherer Zeit zu Weihnachten stets der Fall war. Hatten sich auch für das Geschäft die Wunden noch nicht ausgeheilt, war auch der Neubau noch nicht wieder in Angriff genommen und ragte auch der eine neue Schornstein ohne Dampf empor; im Ganzen stand doch Alles viel besser, als einige Wochen vorher. Durch kluges Verfahren hatte sich der in Amerika eingetretene Verlust etwas abmindern lassen, mehrfache, schon verloren gegebene Zahlungen waren eingegangen, und vor Allem – die Fünftausend brachten eine gar wirksame, von Tag zu Tag wachsende Hülfe. – Die Fabriksäle hatten sich wieder gefüllt mit dem sämmtlichen frühern Arbeiterpersonal, alle Löhne waren bezahlt, bedeutende Wollvorräthe wieder vorhanden und jeder Saal, jeder Arbeitsraum verkündete es, daß die Wunden wenigstens verharschten und einer weitern Ausheilung entgegengingen.

So durfte denn am „heiligen“ Abend der Christbaum und ein kleines Geschenk für die Arbeiter auch diesmal nicht fehlen.

Der alte Herr ordnete noch auf den Tischen und Tafeln. Und er nicht allein, – an seiner Seite schafften und ordneten so fleißig, wie er, Karl und Mathilde.

„Herein! Alle herein!“ rief der alte Herr und öffnete den Saal.

Werkführer und Arbeiter, Frauen und Mädchen traten herein und Allen wurde der Platz angewiesen. Nicht nur der Christbaum, auch die Arbeitslampen brannten und viele Lichter an den Wänden und auf den Tafeln, so daß der Saal ganz hell war.

„Nur einige Worte!“ hob der alte Herr an. „Vorhin war’s finster hier, aber es ist nun hell geworden. Und weiter! Vor einiger Zeit war’s finster, sehr finster im ganzen Hause, im ganzen Geschäft – finster durch’s Schwindelthum! Aber, Gott sei Dank, es wird ja wieder hell, und ich denke, ’s wird immer heller werden, viel heller! Nur fort, fort! hinaus aus der ganzen Welt mit dem Schwindel!

„Und weiter noch! Alle Welt, die da einst finster und im Schwindelthum begraben lag, die wurde erleuchtet und gebessert durch den Eingeborenen. Diese freudige Botschaft verkündete der Engel zuerst den armen Hirten auf dem Felde, ’s war kein Schwindel, – die Hirten fanden das Kind, das neugeborene. Nun will ich Euch auch etwas verkünden, auch eine freudige Botschaft, und Euch zuerst, Euch armen Fabrikarbeitern! Und was ich Euch sage, ist auch kein Schwindel, – Ihr werdet zwei Kinder finden, meine Kinder, nicht in der Krippe, aber in der Fabrik, täglich in der Fabrik! Hier sind sie! Verkündet es allem Volk: sie sind Braut und Bräutigam! Gott segne sie, sie und unsere Fabrik!“

Freudig überrascht standen Alle, – freudig auch das Brautpaar und der alte Herr, aber überrascht nicht, denn die Drei wußten es ja lange vorher, wußten es schon bald nach dem Geburtstage des alten Herrn.

Als der Saal wieder leer war, ging der alte Herr zu seinen Kindern. Er sah sie an, – er lächelte.

„Karl, Karl,“ fuhr er dann fort, „nun behältst Du auch den Schimmel.“

Geschäftig putzte er die Lichter am Christbaume, stieg behend hinauf nach den Wandleuchtern und sprach dabei weiter:

„Gott sei Dank! wie es jetzt steht, Kinder, können wir den Schimmel auch ohne Schwindel behalten!“

Die Kinder antworteten nichts, denn sie hörten nichts, – sie gingen Arm in Arm, Aug’ in Auge, Herz in Herz im Saale hin und her, – – o stilles, seliges Versunkensein!

Erst, als der alte Herr von Neuem redete, erwachten sie aus dem glücklichen Halbträumen. Karl strich seine Stirn und sagte zerstreut:

„Ich glaube, Du sprachst von – – nun ja, ganz richtig, lieber Vater, – um den süßen Kern des Geschäftslebens legt sich nun einmal zuweilen durch ungünstige Conjunctur eine bittere Schale, – aber durch günstige Conjunctur wird die Schale gebrochen, der süße Kern noch erreicht –“

„Karl, Karl, ich sprach ja vom Schimmel, – aber laß gut sein, Karl, – und auch Du, Mathilde, – o Kinder, wie sind wir so glücklich!“

Sie waren es, – sie sind es noch heute. Die hohen Schornsteine im Thale dampfen, – es schnurrt und surrt in den Sälen, – vielleicht, daß der Neubau nach einigen Jahren vollendet steht.





Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_228.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)