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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

des weitern Publicums theils ganz falsch, theils nur halb wahr sind. Es ist dieser Theil, streng genommen, nicht eigentlich Reiseschilderung, jedoch nothwendig. Denn wie Jemand, der auf Reisen gehen will, sicher zunächst gewisse Vorkehrungen treffen und nicht ungerüstet drauflos marschiren wird, so ist auch diese Mondreise erst vorbereitender Begriffe bedürftig. Sie dürften übrigens ebenso belehrend und berichtigend sein, als die Reiseschilderungen selbst, und ebenso, wie letztere, für die meisten Leser Neues enthalten. Zum Beweis will ich nur das Eine daraus verrathen: „die Erde ist eigentlich kein Planet, sondern selbst blos ein Mond.“ – Man betrachte diesen ersten Theil als Einleitung, die über das Reiseziel im Allgemeinen handelt.

Die zweite Abtheilung wird „Streifzüge im Apenninengebirge des Mondes selbst“ enthalten, die dritte „Blicke vom Gebirge aus in das Mond-Flachland“, die vierte „eine Nacht auf dem Monde“ und die letzte, die fünfte „Schlußbemerkungen über den Mond.“


I.
Verhältniß des Mondes zur Erde.

Fast das ganze Publicum glaubt, daß der Mond sich um das Centrum der Erde drehe und diese wieder um das Centrum der Sonne. Schon diese so tief und weit um sich gewurzelte Ansicht ist nicht eine der Natur gemäße, wenigstens eine ungenaue. Denn nicht die Erde, sondern „das Erdsystem“ macht seinen jährlichen Lauf um die Sonne. Zu diesem Erdsysteme gehören Erde, Mond und der diesen beiden gemeinschaftliche Schwerpunkt. Eigentlich ist es letzterer, welcher jene Bahn beschreibt, und erstere, also Erde und Mond, sind nur die beiden Pole des Erdsystems. Ständen wir in hinreichender Entfernung von der Erde, so würde Erde und Mond uns nur als ein Stern erscheinen, kämen wir dann näher, so würde das Erdsystem sich als ein Doppelstern zeigen. Man kann also das „Erdsystem“ als einen Himmelskörper auffassen, dessen Centrum eigentlich jener Schwerpunkt ist. Allein bei der Entstehung des „Erdsystems“ concentrirte sich alle Materie an jenen Polen zu dichter Masse, so daß diese beiden, natürlich einander entgegengesetzten Pole zu materiellen Theilen des Erdsystems wurden, während die übrigen nur als ideelle anzusehen sind, oder wenigstens als aus ganz verschwindend dünner Materie bestehende. Aber auch jene zwei materiellen Theile sind durchaus nicht von gleicher Dichtheit, denn die Masse desjenigen Poles vom Erdsysteme, den wir bewohnen, ist beinahe noch einmal so dicht, als die des Mondes.[1] Ja die Dichtheit ist sogar an einem und demselben Pole bedeutend verschieden. Denn offenbar ist Luft viel dünner als Fels, und zur Materie der Erde gehört bekanntlich nicht blos Stein, sondern auch Wasser und Luft. Bedenkt man nun, daß die Kraft des einen Poles im Verhältnis; zum andern nicht blos dichter wurde, sondern auch mehr Materie concentrirte, als das Erdsystem entstand, so folgt daraus, daß diese beiden Kräfte an den Polen des Erdsystems von verschiedener Intensität seien und daß namentlich der Erdpol, der eine so gewaltige Kugelmasse, als die Erde ist, zusammen ballen konnte, der stärkere sei. Die Gründe aber, warum der eine Pol in jener Zeit voll tiefster Geheimnisse, als Gott die Welten aus Nichts schuf, ein solches Uebergewicht erhielt, hat die Wissenschaft noch nicht völlig evident aus den bis jetzt erkannten Naturgesetzen nachzuweisen vermocht. Und zweifelnd wird man fragen können: wird dies jemals dem Menschen vergönnt sein, so lange er an die Grenzen seiner Erdnatur gebunden ist? Sein Ohr, sein Auge etc. bezeugen, daß sie nur für die Erdnatur geschaffen sind, so daß sie nicht einmal für die Natur unseres nächsten Himmelskörpers, des Mondes, passen, wie die folgenden Mondschilderungen beweisen werden. Wie sollte da der Mensch, dessen Denken allein aus den Sinnen hervorwächst, wie die Blume aus dem Fruchtlande, mit seinen erdgebornen Begriffen den Urgrund alles Seins durchdringen können!

Einst staunte man nur stumm und dumm die Wunderwerke Gottes an, Erklärungsversuche des Verstandes galten für Verbrechen; später wollte man Alles erklären können, wie altkluge Kinder von beschränkter Einsicht. Jetzt erkennt man das Factum an, Erklärung wird nur zugelassen. Es läßt sich aber als Thatsache nicht leugnen, daß fast ein halb Hundert[2] Kugeln, deren jede so groß wie der Mond wäre, nöthig sein würden, um eine Kugel von der Größe unserer Erde daraus zu machen.

Jene zwei Pole des Erdsystems bewegen sich um dessen Schwerpunkt ganz so, wie sich zwei Monde um einen Planeten bewegen. Mithin wohnen wir Erdenmenschen eigentlich auf einem Monde, und zwar auf dem größeren Monde des Erdsystems. Wenn wir sagen: „die Erde sei der Hauptplanet und der Mond nur sein gehorsamer Trabant“, so ist dies Selbstüberhebung von uns, doch noch genug Bescheidenheit im Verhältnis; zu unsern Vorfahren, die bekanntlich gar meinten, daß nicht blos der Mond, sondern auch die Sonne und alle übrigen Sterne um unsere Erde sich drehten.

Die Erde ist also nicht viel vornehmer, als der Mond. Die Wissenschaft weiß jetzt sogar, daß beinahe Mond und Erde, jeder für sich, ein selbstständiger Planet geworden wäre. Denn es ist gewiß, daß ein Mond, der vielleicht in eben der Zeit (oder gar eher) sich um seinen Hauptplaneten bewegt hat, während dieser sich um sich selbst drehte, gar nicht sich hätte erst bilden können. Seine Materie würde zur Masse seines Hauptplaneten übergegangen sein, d. h. dazu gezählt werden müssen. Ferner ist es eben so gewiß, daß, wäre die Umlaufszeit eines Mondes gleich oder größer, als die Umlaufszeit seines Planeten, jener nicht Mond geblieben sein, sondern selbstständig als Planet die Sonne umkreist haben würde. Die Wissenschaft beweist ferner, daß die Umlaufszeit eines Mondes diesen beiden Grenzen auch nicht nahe kommen dürfe. – Hält man diese Wahrheiten fest und prüft man daran unsern Mond, so findet man, daß er der obern Grenze weit näher kommt, als irgend ein anderer Mond. Wie weit dies wahr sei, möge der Leser selbst entscheiden. Ich füge deshalb einige specielle Angaben hinzu, durch die unser Mond mit den Monden anderer Planeten verglichen werden kann.

Würden wir auf einem Monde des Jupiter oder des Saturn oder des Uranus stehen, so würde es uns scheinen, als wenn der zu jenem Monde gehörende Hauptplanet einen mindestens 35 Mal größern Durchmesser habe, als die Sonne; ja, von einigen Monden aus sogar einen 400 bis 800 Mal größern. Stellten wir uns dagegen auf unsern Mond, so erschiene die Erde nur 31/2 Mal so groß, als die Sonne. – Die Monde der genannten drei Planeten machen mehrere hundert Umläufe während eines Umlaufs ihres Planeten, ja, der innerste Saturnusmond sogar 11,000, dagegen unser Mond nur 13. – Die Störungen, welche jene Trabanten aufeinander gegenseitig ausüben, sind weit beträchtlicher als die, welche sie durch die Sonnenanziehungen erfahren. Ihre Bahnen sind sehr wenig gegen die Ebene des Aequators ihres Hauptplaneten und beträchtlich gegen seine Bahn geneigt; bei unserm Monde sehen wir das Gegentheil. Das Perisaturnium des Huygenischen Saturnmondes vollendet (nach Bessel’s Untersuchungen) seinen Umlauf um den Himmel in 710 Jahren und seine Knoten in 36,500 Jahren; bei unserem Monde sind die Zahlen = 8,8 und 18,6 Jahre. – Während eines seiner Jahre erblickt der Jupiter gegen 4500 Verfinsterungen seiner Monde und etwa die gleiche Anzahl Sonnenfinsternisse; unser Mond bietet uns deren etwa zwei im Jahre. Gewiß groß und auffallend sind diese Verschiedenheiten!

Die Behauptung, daß der Mond beinahe neben der Erde, trotz seiner verhältnißmäßig geringen Entfernung, ein Planet geworden wäre, mag vielen Lesern kühn erscheinen, weil sie neu ist, allein jene Möglichkeit ist durchaus nicht so unglaublich, da wir Aehnliches bereits anderwärts im Welträume haben. Ich meine das System, das zwischen Mars und Jupiter ebenfalls um unsere Sonne kreist, – die Planetoiden Ceres, Pallas etc. Hier haben sich sogar noch mehr als zwei selbstständige Planeten neben einander gebildet, und zwar so nahe, daß ihre Bahnen sich öfters kreuzen. Dies System hat somit das in der That entwickelt, was in unserm Erdensysteme nur als nahe Möglichkeit schlummert. Deshalb läßt sich auch wieder umgekehrt von den Planetoiden behaupten, daß, wäre einer der kleinen selbstständigen Planeten genug mächtig geworden, als das System sich zu jetziger Form ausprägte, so würden alle die andern benachbarten Planetoiden nur Monde vom ersteren geworden sein, die sich also nicht so direct, wie jetzt, um die Sonne hätten bewegen können, sondern es zunächst

um den unter ihnen mächtig gewordenen Planeten hätten

  1. Die Dichtigkeit der Erde verhält sich zu der des Mondes, wie 0,5614.
  2. Genauer: 491/2 Kugeln.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_246.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)