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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

List und Ränke, so daß selbst die in London sehr starke geheime Polizei oft die größten Schwierigkeiten hat, die Urheber großer Verbrechen aus diesen Schlupfwinkeln herauszuwittern.

Statt theoretischer Aufzählung dieser Kniffe und Pfiffe, Fallthüren und unentdeckbarer Fluchtlöcher will ich ein Erlebniß erzählen, das mir vor einigen Jahren in Field-Lane passirte und an welches ich neuerdings durch Abbruch und Zerstörung dieser berüchtigten Gasse erinnert wurde.

Field-Lane war ein Ueberbleibsel des berüchtigten Spitzbuben-Stadttheils im Westend, welches vor etwa vierzig Jahren erobert, durchbrochen und ausgeräuchert wurde. Man legte die jetzt stets donnernde und wogende Oxfordstreet hindurch, welche über Holborn hinunter als die zweite Hauptverkehrsader in die City steigt. Field-Lane mündete direct in diese stets wogende, breite Holbornstraße, in welche die Trophäen der Spitzbuben, lauter seidene Taschentücher, zu Tausenden an langen Stangen hereinwinkten, um die als Käufer anzulocken, die es vielleicht vorzogen, ihr gestohlenes Taschentuch wieder zu kaufen, statt sich mit neuen zu versehen. Field-Lane war und blieb Jahrzehende hindurch die eigentliche Verkaufsstraße für gestohlene Taschentücher.

Ein paar zweibeinige Wesen, wie man sie nur in London finden kann, so schmutzig, so zerlumpt, so elastisch und scharf, so kindlich klein und so ausstudirt altklug, so entsetzlich und gräßlich komisch pavianisch, daß man sehr zögert, die allgemeine Annahme, sie gehörten noch zu menschlichen Wesen, zu theilen, ein paar solche zweibeinige Wesen waren in der Oxfordstreet plötzlich gegen mich und in demselben Augenblicke blitzschnell und aalartig durch die Menge davon gesprungen. Ein Herr hatte es gesehen und rieth mir, mich nach einem andern Taschentuche umzusehen, denn das meinige sei eben gestohlen worden.

Richtig. Field-Lane, die enge, schmutzige Seitengasse mit Tausenden bunter, flatternder Taschentücher winkte in der Nähe. Neugierde und Bedürfniß trieben mich hinein. Taschentücher in allen Farben auf Stangen, Leinen und Dächern, aus Fenstern flatternd, von Dach zu Dach oben das schmale Streifchen Himmel verdunkelnd, Taschentücher die Eingangsthür versperrend und um schreiende, schmutzige, zankende, lachende Kinder, Mädchen, Frauen und Greise herumklatschend im Winde, Thüren, Fenster, Wände, Dächer, Himmel und Erde, Alles voll Taschentücher, gestohlner, seidner Taschentücher. Ich ward förmlich umschrieen und einige Male förmlich angepackt und beinahe gewaltsam in einen Laden hineingezogen; aber ich hielt mich tapfer, um mir erst eine Totalansicht zu verschaffen und dann meine Wahl zu treffen.

Endlich trat ich just in einen ganz stillen Laden, vor welchem kein Schreier zum Kaufen einlud, weniger in einen Laden, als in einen leeren, dunkeln Schuppen, dessen Vorräthe alle draußen auf Leinen und an Stangen flatterten. Ich verlangte ein gutes Taschentuch.

„Werd’ Ihnen meine beste Waare zeigen, Sir! Waare nur für Gentlemen!“

Mit diesen Worten lud mich ein unheimlicher Kerl, der gar kein Gesicht, sondern nur struppiges Haar und eine Nase daraus hervor zu besitzen schien, ein, ihm zu folgen. Doch merkte ich, daß er unter dunkeln, buschigen Brauen auch noch ein Paar spitze, stechende Augen verbarg.

„Dann folgen Sie mir gefälligst in’s Waarenlager, Herr! Dort Hab’ ich die reelle Waare für Gentlemen! Dort mögen Sie aussuchen nach Herzenslust die beste Waare im wohlfeilsten Handelshause Londons, Herr!“

So einladend schloß er eine schmutzige Thür auf und winkte mir, ihm zu folgen. Mir war’s einen Augenblick, als ob ich zögern sollte, aber ich unterdrückte diese Regung der Furcht als kindisch und folgte ihm durch die aufgeschlossene, schmutzige, knarrende Thür, durch einen öden, weiß angestrichenen, niedrigen Corridor bis zu einer zweiten Thür, die er mit rostigen Schlüsseln öffnete, um mich mit schnarrender Höflichkeit hinein zu nöthigen. Ich trat in einen leeren, dunkeln, blos durch ein kleines „Himmelsfenster“ in der Decke spärlich erleuchteten, feuchtkalten Raum. Mir fiel dieses „Waarenlager“ als das originellste, das ich je gesehen, auf. Die unheimliche Leere darin wurde blos durch eine alte Breterkiste, einige Stücken Holz und ein Dutzend schmutzige Mauersteine unterbrochen.

„Ist das Ihr Waarenlager?“ rief ich verwundert.

„Ha! ha! Werd’ Ihnen zeigen Raritäten von Schätze, was man nicht seigen thut gemeine Augen!“ rief der struppige Aufsatz von Haaren und Nase, indem er Schlüssel aus der Tasche zog und an dem Schlosse der großen Breterkiste zu arbeiten anfing. Er probirte mehrere Schlüssel, ohne daß das Schloß nachgeben wollte. Er klirrte und klapperte sich dabei in eine immer hitzigere Leidenschaft hinein und schimpfte in immer lauteren, kreischenden Tönen auf ein altes Weib, das er als seine Haushälterin bezeichnete und welches er beschuldigte, das Schloß verdorben zu haben. Die Wuth dauerte und stieg so lange, daß sie mir überhaupt unnatürlich, gemacht erschien.

Es wurde mir plötzlich Angst. Ich war allein in einem Hinterhauswinkel der berüchtigten Spitzbubenstraße und retirirte, mit den Augen den wüthenden Kerl fixirend, rückwärts nach der Thür. Diese öffnete sich rasch hinter mir. Ich wandte mich um und erblickte ein riesiges altes Weib, auf einer Seite unnatürlich auf eine Krücke gelehnt. Indem ich vor dieser wahrhaften Schreckensgestalt unwillkürlich zurückbebte, bemerkte ich deutlich mit einem Blicke, daß ihr Kinn, ihre Oberlippen, ihre Backen mit dicken, dichten Stoppeln eines Bartes bedeckt waren. Dieses Weib war ein starker Kerl etwa in den Vierzigen; das war mir wie ein Blitz klar. Mir ward es grau vor den Augen. Die Ohren summten. Mir versagte die Kraft in den Knieen. Doch behielt ich so viel Geistesgegenwart, zu thun, als merkt’ ich nichts. Ich versuchte, harmlos zu lächeln, wie der Kerl seine Haushälterin komödiantisch auszankte, und dabei um letztere herum durch die offene Thür zu entkommen. Dabei merkt’ ich, wie das verkappte Weib hinter sich nach einer Holzstange an der Wand griff und mir den Weg vertrat. Mit dem „Instincte der Verzweiflung“ griff ich selbst danach und riß sie an mich, wobei mir ein neuer, tödlicher Schreck durch die Glieder fuhr. Das Stück Holz war eine wie Holz angestrichene Eisenstange.

Während ich sie, vor Schreck gelähmt, empor zu schwingen suchte, warfen beide Schurken ihre Masken ab. Das Weib ergriff die Krücke mit beiden Fäusten und holte nach mir aus. Dies gab mir Kraft: ich schleuderte meine Eisenstange gegen die niedersausende Krücke und schlug sie ihm in zwei Stücken aus den Händen. In demselben Augenblicke aber faßte mich das andere Scheusal bei der Gurgel in ganz echter Würgmanier, mit der einen Hand die Kehle, mit der andern den Nacken knochenfäustig zusammendrückend. Es gelang mir, ihm das Ende meiner Eisenstange in das Gesicht zu stoßen, so daß er mit meinem abgewürgten Halstuche in der Hand donnernd auf den hohlen Boden hinfiel. Ich erwartete nun einen neuen Angriff des größeren und stärkeren Helfershelfers, aber dieser stellte sich mit dem Rücken gegen die von ihm geschlossene Thür und machte sich mit dem einen Stück seiner Krücke auf meine Attake gefaßt. Schon sah ich, wie der Andere sich wieder aufraffte: es war kein Augenblick zu verlieren. Mit meiner geschwungenen Eisenstange stürzte ich gegen den Thürhüter, um ihm mit einem Schlage den Schädel zu zerschmettern und die Thüre aufzustoßen. Da schien plötzlich die ganze Scene vor mir und um mich in die Luft zu fliegen. Mein letzter Anblick waren die feuerspritzenden Augen und das teuflische Grinsen meines Gegners. Ich selbst stürzte, stürzte, sank, sank, sank in einen dickfinstern Abgrund.

Dieses Sinken kann nur eine halbe Secunde gedauert haben, aber ich durchblitzte während derselben mein ganzes Leben. Ich erlebte, ich genoß in dieser entsetzlichen halben Secunde, was ich in Dichtungen von der zauberhaften Geschwindigkeit des Gedankens und Gefühls gelesen, was uns zuweilen auch in Träumen begegnet, daß wir in einem Momente des Einschlafens und Wiedererwachens nach einigen Minuten alle Erlebnisse vieler Jahre wieder durchleben, mit längst verstorbenen Freunden und Geliebten ganze Jahrzehende der verschiedensten Freuden und Leiden durchmachen, als Kinder spielen, als Jünglinge lieben, als Männer trotzen und dafür lange büßen u. s. w. Alles in einem Momente vorläufigen Einschlafens, dem dann ein langes Erwachen folgt, um uns zu wundern und zu staunen über diese mysteriöse Energie der Idealität des Raumes und der Zeit, die zu dreißig bis vierzig Jahren Lebensinhalt und Hunderten von Meilen nicht mehr als einige Minuten gebraucht, um sie mit allem Reichthume von Scenen, Leiden und Freuden in uns wieder aufzuerwecken und auf idealem Boden verklärt zu verwirklichen. Ich stürzte und sank eine halbe Secunde (wie ich später ermittelte, denn so tief war der Abgrund etwa), aber während derselben war ich ein Kind auf dem Arme der Mutter, belobter und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_250.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)