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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

No. 19. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Ein Gottesgericht.
Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“


An dem rechten Ufer der Memel, etwa in der Mitte zwischen der Stadt Tilsit und dem kurischen Haff, liegt das adelige Gut Turellen.

Es gehörte schon vor einer langen Reihe von Jahren einer alten, reichen Dame, einer verwittweten Gräfin von Ruthenberg. Sie lebte auch dort, aber ohne allen Umgang mit der Nachbarschaft, selbst mit den allerdings sehr wenigen adeligen Gutsbesitzern der Gegend. Desto häufiger, hieß es, bekomme die alte Dame Besuch von Verwandten und Bekannten aus Kurland. Die reiche Dame aber lebte in ihrer Eingezogenheit außerordentlich comfortable. Sie stammte aus Kurland, und war erst seit wenigen Jahren aus Rußland nach Preußen herübergekommen.

In früheren Zeiten sollte sie sehr schön gewesen sein. An dem Hofe in St. Petersburg, der, als Kaiser Alexander der Erste noch nicht fromm geworden, gleichfalls eben kein frommer war, sollte sie damals lange Zeit eine glänzende, vielfach gefeierte Rolle gespielt haben. In den letztern Jahren sei sie, warum, wußte man nicht, am russischen Hofe nicht mehr gern gesehen; darauf sei sie nach Preußen gekommen, wo das Gut Turellen schon seit längerer Zeit ihrer Familie gehörte. Dies war in den ersten Jahren nach dem Regierungsantritt des Kaisers Nikolaus.

Jetzt, eben weil sie mit Niemandem in der Gegend Umgang hatte, hörte man wenig mehr von ihr, als das Angegebene.

Den Sommer pflegte sie in deutschen Bädern zuzubringen.

Sie war ohne Kinder.

In einem Frühjahre, nachdem sie etwa vier bis fünf Jahre in Preußen sich aufhielt, erhob sich in der Gegend ein sonderbares Gerücht. Sie hatte vor ungefähr vier Wochen Besuch von einem Neffen aus Kurland, einem jungen Grafen Ruthenberg, bekommen. Nachdem der junge Mann beinahe vierzehn Tage da gewesen, sei er plötzlich verschwunden. Am Abende habe er der Dame eine gute Nacht gewünscht, um sich in sein Zimmer gleichfalls zur Ruhe zu begeben. Am andern Morgen sei er fort gewesen. Sein Bett habe man unberührt, alle seine Sachen noch da gefunden. Von ihm selbst keine Spur.

Die Gräfin habe sich anfangs beunruhigt, dann aber die Sache leicht genommen. Die Ruthenbergs hätten alle etwas Besonderes, so eine Art von englischem Spleen. Ihr Neffe werde irgend einem plötzlichen Abenteuer nachgegangen, oder vielleicht von sonst einem augenblicklichen Einfalle, vielleicht weit genug, in die Welt getrieben worden sein; er werde schon wieder zum Vorschein kommen.

Allein es waren seitdem schon vierzehn Tage verflossen, und von dem jungen Grafen war weder eine Nachricht eingetroffen, noch eine Spur aufgefunden. Dagegen, setzte das Gerücht hinzu, wollten Leute in der Nacht seines Verschwindens in unmittelbarer Nähe des Schlosses ein sonderbares, nicht näher bezeichnetes Geräusch, und sogar einen unterdrückten Schrei, wie um Hülfe, gehört haben.

Das Gerücht drang bis zu mir. Ich war damals Kreisjustizrath und Dirigent einer Criminalbehörde in Litthauen. Zu meinem Gerichtsbezirke gehörte auch das Gut Turellen.

Ich hielt es für meine Pflicht, dem Gerüchte nachzuforschen, und schrieb deshalb an das Justizamt, in dessen Untergerichtsbezirke Turellen lag.

Ich erhielt nach einiger Zeit Antwort. Daß der Neffe der Gräfin Ruthenberg vierzehn Tage lang zum Besuche aus Kurland bei ihr gewesen und dann plötzlich, vollkommen unter den oben mitgetheilten Umständen, verschwunden sei, wurde bestätigt. Aber auch, daß die Gräfin völlig unbesorgt sei, und das plötzliche Verschwinden irgend einer Laune des abenteuerlichen jungen Mannes zuschreibe. Von einem sonderbaren Geräusche, gar von einem Hülferufe in der Nacht des Verschwindens habe sich nichts feststellen, nicht einmal die Entstehung des Gerüchts darüber habe sich ermitteln lassen.

Ich konnte, wenigstens vor der Hand, nichts weiter veranlassen. Indeß ungefähr vierzehn Tage später wurde ich durch einen Besuch überrascht. Es war des Abends schon ziemlich spät, als ich einen Wagen vor meinem Hause vorfahren hörte.

Wenige Minuten darauf hörte ich auf meinem Hausflur eine fremde Stimme meinen Namen aussprechen. Es war eine Mannsstimme.

Das Dienstmädchen antwortete, daß ich hier allerdings wohne.

Ob ich zu sprechen sei, und zwar allein?

Ich hörte das Mädchen auf der andern Seite des Flurs die Thür meines Besuchszimmers öffnen. Sie hatte den Fremden in das Zimmer treten lassen.

Gleich darauf kam sie zu mir und meldete, daß sie einen fremden Herrn, der mich dringend zu sprechen gewünscht, aber seinen Namen nicht habe nennen wollen, in das Besuchszimmer geführt habe.

Ein Criminalbeamter erhält oft solche geheimnißvolle Besuche.

Ich begab mich in das Zimmer hinüber, und fand darin einen mit eleganter Sorgfalt gekleideten, schon etwas ältlichen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 257. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_257.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2018)