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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

War das das ruhige, edle Vertrauen der Unschuld? Oder war es ein, und dann schon tief eingewurzelter, Leichtsinn verbrecherischer Schuld?

Sie hatten vom Zuchthaus gesprochen! – Sie waren stehen geblieben und setzten ihr Gespräch fort. Das Mädchen hob wieder an.

„Und einmal muß es doch anders werden; und das kann es nur durch meine Tante. Nach Preußen darfst Du nicht zurück; Dein Leben hier in dem fremden Lande kannst Du so auch nicht fortsetzen. Meine Tante aber hat Vermögen und keine Kinder. Ihr Geld kann uns helfen; wir könnten damit überall Etwas anfangen.“

Ich sah auf einmal die Augen des jungen Mannes leuchten.

„Gretchen, ich habe da einen Gedanken.“

„Was ist es, Fritz?“

„Wann willst Du fort?“

„Mein Oheim wartet auf mich.“

„Also heute noch?“

„Heute Abend noch; wir werden die Nacht durch fahren. Aber was hattest Du?“

„Ich bringe Dich zur Grenze zurück. Unterwegs sage ich es Dir.“

Sie gingen Arm in Arm der Grenze zu. Von ihrem Gespräche hörte ich nichts mehr. Was ich gehört und gesehen, hatte mich interessirt: die hübschen, frischen Gestalten, das traurige und doch so glückliche Verhältniß Beider, ihr wahres Gefühl, besonders der klare, zuversichtliche Muth des Mädchens; dann aber auch wieder das Zuchthaus und daß der Bursch nicht nach Preußen zurückkommen dürfe, und daher der Zweifel, ob Schuld oder Unschuld. Und wenn Schuld, wenn verbrecherische Schuld da war, sollte sie, da der Bursch nicht nach Preußen zurückdurfte und die preußische Grenze hier zugleich die Grenze meines neuen Gerichtsbezirks bildete, sollte sie in dieser Beziehung nicht auch mich von nun an angehen?

Der Mensch ist ein Egoist und ein schlimmer Egoismus ist der bureaukratische.

Endlich, wenn Schuld da war, konnten dann nicht gar die letzten Worte, die ich gehört hatte, einen verbrecherischen Sinn haben, einen verbrecherischen Plan andeuten, den die Beiden jetzt im Weitergehen, während ich über die Worte nachdachte, weiter ausbildeten und verabredeten? Sie waren mir längst aus den Augen verschwunden, als ich noch diesen Gedanken nachhing.

Der Abend war hereingebrochen.

Wie der fröhliche Gesang des hübschen Mädchens verstummt war, so waren die Strahlen der Sonne verschwunden; im Walde herrschte nur das Dunkel und die Stille des Abends. Die alten und die jungen Bäume mit ihren Blättern und Blüthen hüllten sich in sie zum Schlafen. Ich verließ meinen Baumstumpf, schlug wieder die Landstraße ein und setzte meinen Weg fort. Ich mußte noch eine Zeitlang im Walde gehen. Es blieb still und einsam um mich her.

Auch von dem jungen Liebespaar sah und hörte ich nichts wieder. Der Bursch hätte zurückkommen müssen oder können. Er begegnete mir nicht. Dagegen hörte ich nach einiger Zeit im Galopp ein Pferd hinter mir herkommen. Ich war noch im Walde, gerade in einer Biegung der Landstraße. Ungefähr ein paar hundert Schritte vor mir war das Ende des Waldes. Ich hemmte meinen Schritt, um zu sehen, wer an mir vorübergaloppiren werde. Die Umrisse eines Reiters auf einem Pferde konnte ich hinter mir erkennen; mehr aber in der Dunkelheit der Bäume nicht. Allein auf einmal, als Pferd und Reiter neben mir waren, sah ich in dem Lichte, das aus der freien Ebene in die Landstraße hereindrang, auf einem großen, mageren, dunklen Pferde ein so häßliches, widerwärtiges Gesicht, daß ich, wäre es mir mitten im Walde begegnet, mich davor hätte erschrecken können. Es war breit; es schien mehr gelb, als blaß zu sein; es war von Blatternarben zerrissen; ein dichter, aufstehender, dunkler Schnurrbart theilte es; ein paar grünlich aussehende Augen fielen mit einem fast blendenden falschen Blitzen auf mich. So flog der Reiter an mir vorüber. Ich sah ihm noch überrascht nach.

Da kam um die Biegung des Weges mir ein Mensch entgegen. Als der den Reiter plötzlich vor sich sah, kam es mir vor, als wenn er erschrocken auf die Seite in den Wald hineinspringen wolle. Der Reiter, als er ihn gewahrte, wollte plötzlich sein Pferd anhalten; aber er besann sich anders und sprengte vorüber. Der Fußgänger sprang nicht in den Wald. Nach zehn Schritten begegnete er mir. Es war der Bursch Fritz, der mit dem hübschen Mädchen gesprochen hatte. Ich blieb bei ihm stehen.

„Wer war der Reiter?“ fragte ich ihn.

Ich glaubte, in seinem Gesichte noch Spuren von Erschrecken zu bemerken. Mich sah er mißtrauisch an.

„Ich kenne ihn nicht,“ antwortete er mir flüchtig und setzte, ohne sich bei mir aufzuhalten, seinen Weg fort.

Aus dem eigenthümlichen hastigen Tone seiner Stimme glaubte ich zu entnehmen, daß er den Menschen wohl kannte, aber irgend einen Grund hatte, dies nicht zu sagen.

Welcher war dieser Grund?

Wer war der Reiter mit dem häßlichen, Schrecken erregenden Gesichte?

An einer Landesgrenze haust allerlei Gesindel. – So nahete ich mich meinem neuen Gerichtsbezirke.

Als ich mit einer neuen Biegung der Landstraße aus dem Walde trat, sah ich etwa hundert Schritte weit vor mir links am Wege ein großes, einzeln stehendes Haus liegen. Ich ging darauf zu. In einer großen Stube sah ich durch die Fenster Licht. Vor der Thür stand ein Mensch, es schien ein Knecht zu sein.

„Ist dies ein Wirthshaus?“

„Ja“

„Noch auf hannoverschem oder schon auf preußischem Gebiete?“

„Noch im Hannoverschen. Die Grenze ist dort, dreißig Schritte weiter.“

„Kann man hier Nachtquartier finden?“

„Ich sollte denken. Gehen Sie in die Wirthsstube, Sie werden da die Frau Wirthin finden.“

Ich ging in das Haus. Die erleuchtete Stube war die Wirthsstube. Ich trat hinein. In der Stube fand ich die Wirthin und einen einzigen Fremden. Jene saß bei einer Lampe mit Nähen beschäftigt. Der Fremde saß an einem anderen langen Tische und hatte ein Glas Bier vor sich stehen.

Ich ließ mir von der Wirthin ebenfalls ein Glas Bier geben. Meine Absicht war, noch am Abend die preußische Grenze zu überschreiten, falls ich drüben in der Nähe ein convenables Wirthshaus finden werde. Hiernach wollte ich mich nun zunächst erkundigen.

„Die Grenze ist hier ganz in der Nähe?“ fragte ich die Wirthin.

„Ja, gleich hinter dem Garten des Hauses.“

„Wie weit ist das nächste preußische Dorf entfernt?“

„Eine starke halbe Stunde.“

„Trifft man vorher kein Wirthshaus?“

„Bis zu dem Dorfe ist nur Wald; er fängt gleich hinter der Grenze wieder an und in dem Walde ist kein Wirthshaus.“

„Dennoch führt die Landstraße hindurch?“

„Sie führt hindurch. Die preußische Regierung leidet keine Wirthshäuser in dem Walde und so dicht an der Grenze. Sie würden den Schleichhändlern zu sehr zum Schlupfwinkel dienen.“

„Ist hier viel Schleichhandel an der Grenze?“

„Wir bekümmern uns nicht darum.“

Die Frau sprach das mit Zurückhaltung. Sie schien weder mir noch dem andern Fremden zu trauen.

Ich setzte dennoch meinen Versuch fort, über die Verhältnisse der Gegend Auskunft zu erhalten.

„Es ist hier wohl oft unruhig an der Grenze?“ fragte ich die Frau weiter.

„Es fallen manchmal Streitigkeiten zwischen den preußischen Zollbeamten und den Schmugglern vor.“

„Sind die Schmuggler Preußen oder Hannoveraner?“

„Preußen. Es wird nur nach Preußen hereingeschmuggelt, wo Alles theurer ist. Sie haben da so viele Zölle und Steuern. Darum lebt das Volk da schlechter. Es ist auch schlechter drüben, als bei uns.“

„Und kein Hannoveraner nähme an dem Schleichhandel Theil?“

„Einige nichtswürdige Bursche abgerechnet, keiner. Gesindel findet sich überall.“

„Besonders an den Grenzen,“ bemerkte ich.

„Aber am meisten auf jener Seite,“ bemerkte dagegen fast eifrig die gute hannoversche Patriotin.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 387. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_387.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)