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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

auf die Geisteskranken. Alle besserten sich hier, Viele wurden gesund. Der Glaube an die Wundercuren der heiligen Dymphne stand felsenfest. Papst Eugenius IV. sanctionirte im vierzehnten Jahrhundert die Dymphne-Kirche und ganz Gheel als einen Ort des Heils für Geisteskranke. Der feste Glaube war nun auch officiell geheiligt. Der Glaube kann nicht nur Berge versetzen, sondern auch verrückte Geistesbauten wieder einrenken. Der Glaube ist selbst in dem rationellsten physiologischen Sinne eine Macht und Medicin (respective ein tödtliches Gift). Mancher Hund, der zu civilisirt ist, um trockenes Brod zu fressen, verzehrt es mit dem größten Appetite und leckt noch mit der Zunge nach beiden Seiten, wenn man das von ihm verschmähte Stück trocknes Brod vor seinen Augen auf einem ganz absolut reinen Teller wischt. Er glaubt: Aha, nun ist Fett dran! und so schmeckt’s ihm. Wie oft werden Menschen von imaginären Krankheiten gequält! Wie oft stärkt man die Recreationskraft der Natur dadurch, daß man einen festen Glauben an einen bestimmten Arzt oder an eine Medicin in einem Kranken auferbaut!

Der Glaube that hier auch viel. Er lieferte eine günstige Disposition unter den Geisteskranken. Das Meiste that freilich die ruhige, heitere Luft und gesunde Beschäftigung hier, das Allermeiste und Beste aber die traditionelle Behandlung, welche hier Praxis, Regel und Gesetz ward und vor Jahrhunderten schon gelöst hatte und leistete, was in wissenschaftlichen Irrenhäusern erst neuerdings eingefühlt wird. Die Grundgesetze in Behandlung der Wahnsinnigen in Gheel sind seit Jahrhunderten: Freiheit der Handlung und Bewegung, Beschäftigung in freier Luft, Fernhaltung von den grinsenden Leidenschaften, Sorgen und Gebrechen der Gesunden und Civilisirten, gütige Behandlung und thätige, aufrichtige Sympathie!

Die Geisteskranken leben mit den einfachen, arbeitsamen Einwohnern von Gheel wie Pensionäre, als Familienmitglieder und arbeiten, essen und trinken und sprechen auch bald wie alle andern, gesunden Leute. Die Väter der einzelnen Familien üben ein patriarchalisches Amt: sie herrschen, weil ihnen Jeder aus Liebe, in dem Glauben an ihre natürliche Autorität, freiwillig gehorcht. Die Obrigkeit des Staates hat sie auch officiell zu „pères nourriciers“ (Pflege-Vätern) der Geisteskranken ernannt. Das Verhältniß zwischen ihnen beruht durchweg auf Zuneigung und bildet einen schneidenden Contrast zu dem sonst zwischen Geisteskranken und ihren Wärtern herrschenden Widerwillen.

Die Bewohner von Gheel haben außerdem bis auf den heutigen Tag den durch viele Jahrhunderte hindurch fortgeerbten Glauben, daß ihr Ort und sie selbst eine besondere Gabe und Kunst in Behandlung der Geisteskranken besitzen. Das ist auch Thatsache und Folge einer Jahrhunderte lang fortgesetzten Praxis und Uebung. Dieser auf Thatsachen fußende Glaube hat denn auch Hand und Fuß und gibt ihnen die furchtlose Zuversicht, die sich auch den Geisteskranken mittheilt und oft schon die halbe Cur ausmacht. Die einzelnen Pflegeväter sind stolz auf das blühende, gesunde Aussehen ihrer Pfleglinge und wetteifern miteinander in Gewinnung und Pflege derselben. Familien, die zufällig einmal keinen solchen Pflegling haben, halten sich für unglücklich und thun alles Mögliche, sich einen solchen Schatz zu verschaffen. Geldinteresse spielt dabei keine Hauptrolle. Manche werden für sehr wenig Kostgeld, viele ganz umsonst aufgenommen.

Mancher Pflegevater behielt seinen Kranken, nachdem er gesund geworden, nachdem er Angehörige verloren, die für ihn bezahlten oder wenn er die größte Abneigung zeigte, wieder in die Städte der Civilisation und des modernen Lebens zurückzukehren. Ein in Brüssel verlaufenes, wahnsinniges Mädchen ward nach Gheel gebracht, wo sie durch ihre Feinheit und Bildung zu dem Glauben führte, daß sie von hoher Abkunft sein müsse. Ihr Pflegevater ließ sie zwanzig Jahre lang an einem besondern feinen Tische essen und behandelte sie wie eine Ehre und ein Glück seines Hauses, ohne je einen Pfennig dafür zu erhalten. Ein Arzt trat einmal in das Zimmer einer Pflege-Familie, wo der Wahnsinnige den Ehrenplatz am Kamine einnahm. Die Kinder, erschreckt durch das fremde Gesicht, klemmten sich zwischen die Kniee des Wahnsinnigen, um sich von ihm schützen und zureden zu lassen, daß der Doctor nicht beiße etc.

Vor einigen Jahren beschlossen einige Städte Belgiens, ihre Wahnsinnigen von Gheel wegzunehmen und in einem vermeintlich besseren Institute unterzubringen. Die darauf erfolgten Scheidescenen in Gheel waren zum Theil herzzerreißend. Die Wahnsinnigen klammerten sich weinend an ihre weinenden Pflege-Familien an, sich mit Schrecken von ihren natürlichen Angehörigen abwendend, Andere hatten sich versteckt und mußten mit Gewalt aus ihren Winkeln hervorgeholt und entfernt werden. Die Folge davon war, daß viele dieser Geisteskranken in Tobwahnsinn verfielen, fast alle sich verschlimmerten und die Meisten nach Gheel zurückgebracht wurden, wo sie wieder Feld und Garten bestellen helfen, Blumen und Bäume Pflegen, Vieh hüten, Kinder warten, Wüsten urbar machen und die lachenden Meere goldner Halme um die Stadt herum ausdehnen. Andere tischlern, schneidern, schustern, häkeln, klöppeln Spitzen – Jeder und Jede nach Gewerbe, Talent und Neigung. Sie thun dies umsonst contractmäßig, aber die Pflegeväter finden es viel vortheilhafter, ihnen stets einen Gewinnantheil oder den ganzen Gewinn zukommen zu lassen und sie sonst durch die Früchte ihrer Arbeit angenehm zu überraschen. Der Eine bekommt Sonnabends Extra-Tabak, der Andere Extra-Bier etc., die Eine ein Tuch, Band oder sonstigen Schmuck, auch Geld, das sie nach ihrer eigenen Disposition verwenden. Viele arbeiten ganz auf eigene Rechnung. In diesen Arbeiten werden sie Alle blos von gutem Beispiel (Alles in Gheel ist sehr fleißig), Nacheiferung und gutherziger Ermahnung, wie von der Gewißheit des Erfolges und Lohnes getrieben. Und so sind diese Unglücklichen, die sonst überall als der Gesellschaft gefährlich eingekerkert und in strenger Haft gehalten werden, hier als frei in Familien, Garten, Feld, Haus und Hof Umherwandelnde glückliche Mitglieder einer blühenden Menschengemeinde. Nur in einzelnen, entschieden gefährlichen Fällen wird Dieser oder Jener in einer ihm kaum merklichen Aufsicht und in Schranken gehalten, dies aber auch nur für die Perioden besonderer Anfälle. Im Uebrigen gelten sie stets als freie Mitbürger, die sich zum Theil unter sich, zum Theil mit Andern amüsiren. Nur daß Gastwirthen u. s. w. verboten ist, ihnen spirituöse Getränke zu verkaufen. Die Geisteskranken von Gheel geben zuweilen hübsche Concerte unter Direktion eines wahnsinnigen Violinisten.

Freiheit und Arbeit – das ist’s – das ist Alles, womit die Geisteskranken von Gheel behandelt, geheilt oder wenigstens in den Schranken der Gefahrlosigkeit gehalten werden. Dies ist so seit vielen Jahrhunderten und so ein Ruhm und ein Verdienst, welcher den meisten Anstalten und Gesetzen für Geisteskranke in der ganzen Welt zur Schmach, zum ewigen Vorwurfe wird, da sie erst alle Arten von Barbareien und Torturen durchprobirten, ehe sie gezwungen zu dieser Einfachheit und Menschlichkeit schritten.

Die seit Jahrhunderten praktisch geübte Behandlung der Geisteskranken in Gheel ist um so bemerkenswerther, als sich bis in die neue Zeit niemals Wissenschaft und Obrigkeit darum bekümmerten. Erst mit dem Jahre 1795, als Belgien mit dem Alles regieren wollenden Frankreich verbunden ward, nahmen die „Behörden“ Notiz von diesem alten Paradiese der Wahnsinnigen. M. de Pontecoulin, Präfect des Departements, wozu Gheel gehörte, verglich das entsetzliche Elend und die Barbarei in den obrigkeitlichen Irrenhäusern von Brüssel u. s. w. mit dem Institute in Gheel, und ließ aus ersterem so viel Wahnsinnige, als unterzubringen waren, in letzteres übersiedeln. Diesem Beispiele folgten bald andere Städte Belgiens und Hollands, so daß Gheel nach Jahrhunderte langem stillen Wirken weit und breit als Paradies der Geisteskranken berühmt ward. Doctor Guislain, einer der ersten Reformatoren der Irrenhäuser, studirte Gheel und die Praxis daselbst sehr genau, gab aber im Ganzen ein ungünstiges Urtheil, so daß die Behörden Alles genau untersuchen ließen, worauf sie natürlich „Verordnungen“ des Besserwerdens erließen, ohne aber damit die bewährte, alte, wohlthätige Praxis zu andern.

Gheel hat jetzt etwa 10,000 Einwohner, wozu 800 bis 1000 Geisteskranke kommen. Vier von den „Behörden“ angestellte Aerzte führen eine Art Aufsicht über die Kranken, und geben vierteljährlich Berichte. Medicinisch greifen sie aber nicht ein, und überlassen Alles der Natur und alten Praxis der Pflegeväter.

Außer den geisteskranken Bewohnern Wallfahrten stets noch eine Menge anderer Unglücklicher zu dem Grabkreuz der heilige Dymphne, um sich einen gesunden Geist zu erflehen, obgleich die dabei angewandten Mittel selbst eine Steigerung intellektueller Verirrungen sind. Die Steinstufen vor dem Grabkreuze sind rief ausgehöhlt von den rutschenden Knieen geistesirrer Gläubigen, welche seit Jahrhunderten ihre „neuvaines“ durchmachten, d. h. neun Tage hinter

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 394. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_394.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)