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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Gründer und Patriarch des Ganzen, den alten, ehrwürdigen Schiffer. Schneeweiß ist schon sein spärliches Haar, denn an siebzig Jahre, größtentheils in schwerer Arbeit vollbracht, bleichten dasselbe. Das Gesicht, von Wind und Wetter gefärbt, zeigt unzählige Falten und Runzeln, die unter dicken, weißen Brauen schon etwas tiefliegenden, hellblauen Augen bewahrten aber noch einen scharfen und klaren Blick. Wohl an sechs Fuß hoch steht der Alte in seinen Schuhen und Brust und Arme haben eine dieser Größe entsprechende Breite und Stärke, während die Beine verhältnißmäßig viel schwächer gebaut sind. Bei allen Schiffern und Fischern, die ihr Leben größtentheils auf der Ruderbank sitzend verbrachten, sind die Arme und der Brustkasten durch die Anstrengung des Ruderns häufig im Verhältniß ungleich stärker ausgebildet, als die Beine, die nur selten angestrengt wurden. Unser alter Seemann kann auch nur noch am Krückstocke gehen und wenn er regelmäßig des Sonntags zur Kirche wandert, muß er, auf den Arm seiner jüngsten Tochter gestützt, langsam dahin schleichen. Sitzt er aber erst einmal im Boote, so weiß er die langen, schweren Schlagruder noch mit voller Kraft zu führen und bei den Fischernetzen gleich dem kräftigsten Jünglinge zu arbeiten. Eigenthümlich sieht es aus, daß dem Greise sein linkes Ohr scharf vom Kopfe abgeschnitten ist. Der Säbelhieb eines algerischen Corsaren, der das Schiff, auf dem der alte Claus damals als rüstiger Steuermann diente, entern wollte, hatte dies gethan, war aber von ihm dafür mit einer Axt sogleich zu Boden geschlagen worden.

In seiner Jugend hatte der „Großvater", so ward der Alte allgemein von allen Familiengliedern und selbst von den eigenen Söhnen genannt, ein sehr bewegtes Leben geführt, und wenn er gerade besonders guter Laune war, so liebte er es, in den langen Winterabenden hie und da Manches von seinen früheren Fahrten zu erzählen. In den westindischen Gewässern besonders hatte er lange gedient, und war mehrere Jahre erster Steuermann auf einem spanischen Kriegsschooner gewesen. Während der Napoleonischen Continentalsperre hatte er als Eigenthümer einer kleinen Schaluppe viel Schmuggelhandel getrieben, große Summen dabei verdient, freilich aber auch – wie das gewöhnlich bei solchen unregelmäßigen Geschäften zu gehen pflegt – wieder verloren. So viel war aber doch dabei übrig geblieben, daß er hier sich ein Haus erbauen und überhaupt den Grund zu einem behaglichen Wohlstand für die ganze Familie legen konnte. Seit mehreren Jahren trieb der Großvater mit Hülfe seiner Enkelsöhne nur Fischerei, und zwar nicht für den Verkauf, sondern lediglich für den eigenen Bedarf der Familie. Freilich war derselbe nicht gering, denn der Familienmitglieder gab es viele, der Appetit war stark, und frische Seefische kamen fast jeden Mittag auf den Tisch, wie sie getrocknet, geräuchert oder eingesalzen auch selten beim Abendessen oder dem zweiten Frühstück fehlten. Auch die Schweine, Katzen und Hunde der Familie verzehrten viele Fische. Nicht mit Unrecht führt diese ganze Strandgegend den Namen „das Fischland." Wer ein Freund von Schollen, frischen, geräucherten oder eingesalzenen Heringen und anderen Seefischen ist, der gehe hierher, er kann seinen Appetit darnach zur Genüge befriedigen.

Die Ehegattin des alten Familienhauptes war jetzt ein kleines, zusammengetrocknetes Mütterchen, der man es nicht ansehen konnte, daß sie einst acht starken, blühenden Kindern das Leben gegeben hatte. Stets reinlich und ordentlich gekleidet, das weiße Haar unter einer Mütze versteckt, war sie, trotz ihres hohen Alters, den ganzen Tag noch unermüdlich auf den Beinen, und erklärte besonders jedem Staub- und Schmutzflecken im Hause den Krieg. An den langen Winterabenden spann sie fleißig, und der größte Theil des Garnes zu den großen Fischernetzen der Familie war aus ihren thätigen Händen hervorgegangen. Gleich den meisten Frauen in diesen Strandgegenden war auch diese alte Hausmutter während ihres langen Lebens niemals aus der Heimath fort gewesen. Mann und Söhne hatten die ganze Erde durchmessen und es gab keinen Welttheil, in dem sie nicht einst gelandet waren, für sie selbst und alle ihre Töchter aber war eine Fahrt nach dem ungefähr fünf Meilen weit entfernten Stralsund die größte Reise, die sie jemals gemacht, und dieselbe bildete noch jetzt ein vielbesprochenes Ereigniß in ihrem einförmigen Leben.

(Schluß folgt.)


Blätter und Blüthen.

Der Nestor der Gemsjäger starb kürzlich in seinem 85. Lebensjahre in seiner Heimath, dem glarnerischen Flecken Ennenda. Es war dies Rudolf Bläsi von Schwanden, ein kühner, waghalsiger Mann, der sehr viel erzählen konnte. Er pflegte jährlich seine 30 bis 40 Gemsen zu schießen und hatte dieses gefahrvolle Gewerbe unverletzt und glücklich bis in sein 50. Lebensjahr fortgesetzt. Da aber streckte der Tod schon einmal seine Faust gegen den Abenteurer aus. Eines Tages zog er mit seinem Freunde und Gefährten Walcher das wilde Sernftthal hinauf, aus welchem zwei der rauhsten und gefährlichsten Paßwege über den Schneekamm der zerrissenen Gebirge nach dem bündnerischen Vorder-Rheinthal führen. Den einen überragt das eisbedeckte Felshorn des Tschingels. In dessen Nähe trennten sich die Jäger, indem sie Beide die unzweifelhaften Spuren eines Gemsbockes verfolgen wollten, der ihnen nicht entgehen konnte, wenn sie, wie sie verabredeten, auf der Alp Falz wieder zusammenträfen. Bläsi trifft das Thier auf seinem Wege auch an und verfolgt es eifrig, ihm von Absatz zu Absatz nachkletternd. In seiner Hitze überspringt er zuletzt auch eine tiefe, gähnende Kluft, bemerkt aber, als er sich jenseits befindet, mit Grausen, daß ihm der Rückweg abgeschnitten, indem er von dem höheren Absatz nach dem niederen gesprungen. Dicht vor ihm aber ragt eine glatte, kahle Felswand zum blauen Himmel empor. Er hält sich für verloren, sucht sich jedoch in sein Schicksal zu ergeben. Die Nacht bricht herein, ihre Schrecken aber werden durch ein starkes Gewitter erhöht, das sich neben und unter dem Unglücklichen entladet. Da der Felsabsatz zu schmal ist, um sich setzen oder legen zu können, muß er, auf seine Büchse gestützt, stehend ausharren: eine Bewegung und der bodenlose Abgrund verschlingt ihn. – Inzwischen ist sein Jagdgenosse auf dem Orte des Stelldicheins angelangt, wo er, obwohl in einer Sennhütte, die Nacht ebenfalls schlaflos, weil besorgt und bekümmert um seinen Cameraden, zubringt. Bei Tagesanbruch macht er sich, mit einem Seile versehen, auf, den vermuthlich todten Freund aufzusuchen. Bis 11 Uhr Morgens irrt er umsonst umher, da endlich bringt ihn der Zufall an den Rand jener Felswand, an welcher er den Vermißten wie angeklebt stehen sieht. Wie wird aber Bläsi zu Muthe, als er plötzlich den Freund rufen hört und ihn über seinem Haupte erblickt! Walcher läßt sofort das Seil hinab und es gelingt ihm, den Todgeweihten glücklich zu sich heranzuziehen. Allein diese Nacht hatte hingereicht, dem rüstigen Manne die Haare gänzlich zu bleichen.

Einige Jahre nach diesem Vorfalle ward es aber Bläsi, trotz der fortgesetzten Gemsjagden, in seiner Heimath zu eng und langweilig. Er wanderte nach Amerika aus und begab sich dort in den äußersten Westen der Vereinigten Staaten, wo er der Anführer einer Jagdgesellschaft ward und mannichfache Abenteuer zu bestehen hatte. Allein trotzdem und obgleich es ihm wohl erging, kehrte er schon nach einigen Jahren nach den Felsenthälern von Glarus zurück: das Heimweh litt ihn nicht mehr drüben. Da machte es ihm aber Vergnügen, von seinen Jagden und Erlebnissen in den Urwäldern erzählen zu können. Der kühne Jäger mußte aber zuletzt auf einem langwierigen, schmerzensvollen Krankenlager sterben.

– d.


Wien vor hundertundzwanzig Jahren. An Gottsched schrieb einer von dessen Verehrern am 1. März 1738 aus Wien:

„Die hiesige Sprache ist zwar nicht die beste, doch finde ich sie so schlecht nicht, als ich glaubte. Mich deucht, daß sie zuweilen der niedersächsischen nahe kommt, und mehr als in Sachsen so geredet wird, als man schreibt. Ich habe von gebornen Wienern die Redensarten gehört, woran man sonst die Niedersachsen erkennt, z. B. ich bin lange, schämen Sie sich was. Die Geschlechter der Wörter sind zuweilen ganz verschieden. Man sagt hier z. B. der Butter, der Bier. Zu manchen Wörtern setzt man ein n: man sagt hier nicht die Suppe, sondern die Suppen. Die Doppelbuchstaben redet man ganz vernehmlich aus und man macht z. B. aus dem Worte Wien zwei Sylben. Die Wörter, welche eine Sache als klein beschreiben sollen, haben hier am Ende weder das sächsische chen, noch das schwäbische l, sondern erl, und man sagt nicht Tischchen, nicht Tischl, sondern Tischerl. Von Provinzialredensarten habe ich folgende angemerkt: die Accise heißt hier Mauth, ein Fächer ein Waderl, der Mund Goschen, die Mücken nennt man Gäseln, Gurken Omürken, Hahnbutten Hietschbietsch. Anstatt befehlen spricht man schaffen: was schaffen Sie? Wie man in Sachsen das hören Sie einschaltet, so bringt man hier das schauen Sie immer an. Nirgends habe ich die Sprache schlimmer gefunden, als im Bambergischen und Bayerschen, woselbst ich alle Mühe gehabt habe, die Leute zu verstehen.

Der Geschmack ist hier, zum wenigsten unter den Evangelischen, nicht so gar verderbt. Man hält Günthers und Opitzens Gedichte hoch; ich habe hier Leute von beiderlei Geschlecht gefunden, die ganze Stücke aus den Schweizer-Gedichten auswendig wußten, und sich das schöne Gedicht des Herrn Dr. Haller auf den Tod seiner Liebsten als ein Meisterstück aus den Zeitungen abgeschrieben hatten.

Die Musik ist hier in ganz ungemeinem Flore; man liebt dasjenige am meisten, was melodisch und singbar ist; daher weder Bach noch Gadebusch Beifall finden. Die Faustina, welche sich noch bei ihrer letzten Durchreise hat hören lassen, gilt hier wenig, weil man glaubt, daß sie ihre Stimme schon verloren habe und anitzo mehr belle als singe. Am Donnerstage war am Hofe zum ersten Male ein Oratorium, das ich auch gehört. Die kais. Castraten sangen unvergleichlich, aber die Musik war gar zu traurig und tragisch, und so muß sie sein, wenn sie dem Kaiser gefallen soll.

Die hiesige Lebensart gefällt mir ungemein, sie ist so ungezwungen und vertraulich, als an irgend einem andern Orte. Die spanischen Complimente und Ceremonien sind nur am Hofe und bei feierlichen Begebenheiten gewöhnlich, aber im gemeinen Umgange, auch mit den Vornehmsten, kann man sich dadurch lächerlich machen.“


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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