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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

No. 30. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der erste Fall im neuen Amte.
Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Fortsetzung.)


Ich setzte das Verhör fort.

„Hat er hier Verbrechen begangen?“ fragte ich.

„Ich habe gerade nicht davon gehört; aber dem Menschen ist Alles zuzutrauen.“

„Ich hörte, er habe Zuchthausstrafe zu befürchten, wenn er nach Preußen zurückkomme.“

„Das ist wohl möglich.“

„Seit wie lange steht Ihre Nichte mit dem Burschen in Verbindung?“

„Sie ist jetzt achtzehn Jahre alt; also seit vier Jahren.“

„Halten Sie auch das Mädchen für fähig, ein Verbrechen zu begehen?“

„Der schlechte Mensch kann sie leicht ganz verdorben haben.“

Er hatte mir die Antwort schnell gegeben, wie die früheren. Auf einmal mochte er ihre Schwere fühlen.

„Das heißt, –“ wollte er einlenken, aber er vollendete nicht und schwieg.

„Nun?“ fragte ich.

Eine große, sichtbare Angst hatte sich seiner bemächtigt.

„Herr Criminaldirector,“ fragte er, und er hatte kaum den Muth, zu sprechen – „Sie denken doch wegen der Vergiftung nicht an das Mädchen?“

„Wenn das nun der Fall wäre?“

„Großer Gott, großer Gott!“

Er mußte das Gesicht mit beiden Händen bedecken.

Er glaubte daran. Er hielt das Mädchen für fähig, einen Giftmord zu verüben, ihre eigene Tante, ihre Wohlthäterin zu vergiften.

„Sie sind mir noch Ihre Antwort schuldig,“ sagte ich.

Er entblößte sein Gesicht; es war leichenblaß.

„Herr Director, ich kann Ihnen die Antwort nicht geben. Sie ist das Kind meines Bruders. Aber wenn es wahr wäre, nein, ich überlebte das Unglück und die Schande nicht.“

Ich hatte noch eine Frage an ihn:

„Ist Ihnen das Testament Ihrer Schwester bekannt?“

Sein Schmerz fuhr von Neuem auf.

„O, mein Gott, sie hatte ja darin dem unglücklichen Geschöpfe fünfhundert Thaler vermacht.“

„Wußte das Mädchen das?“

„Gewiß, gewiß.“

Ich entließ den Mann, den der furchtbarste Schmerz immer heftiger ergriff.

Ich wußte jetzt für den Augenblick genug, leider genug.

Wie tief, wie fest begründet mußte bei dieser Angst, bei diesem Erschrecken, bei diesem Schmerze die Ueberzeugung des Mannes von dem schlechten Charakter und von der Schuld des Mädchens sein!

War sie denn wirklich eine Verbrecherin, eine Mörderin, das frische, fröhliche Kind?

Ich mußte jetzt mit ihrer Vernehmung verfahren; ich konnte es nur mit schwerem Herzen, eine große Angst ergriff mich. Fand ich sie schuldig – und wie sehr mußte ich das jetzt fürchten? – in welches entsetzliche moralische Elend sah ich dann hinein! Den fröhlichen Sinn des Mädchens hatte ich selbst kennen gelernt; auch ihre herzliche, tiefe, innige Liebe; und vier Jahre lang schon hatte diese innige Liebe in ihrem Herzen geblüht und allen Drohungen und Stürmen, die sie ersticken wollten, widerstanden. Und dennoch eine Mörderin! Noch so jung und schon eine Mörderin! Wenn auch nur von einem schlechten Menschen verführt, immer eine Mörderin, die mit kaltem Blute, mit teuflischer Hinterlist das Leben eines Menschen, ihrer nächsten Anverwandten, ihrer zweiten Mutter, hatte vernichten können! War es denn möglich?

Und auch der Gedanke ergriff mich mit Schrecken, daß das junge, frische Leben dem Henker verfallen sei, daß ich selbst sie diesem überliefern sollte.

Sie trat in das Verhörzimmer. Es war wirklich das hübsche Kind aus dem hannoverschen Walde. Ich mußte mich doppelt zusammennehmen, um mich nicht zu verrathen, daß ich sie schon kannte. Sie hatte mich damals nicht gesehen. Sie hatte sich sehr verändert; es war keine Spur mehr von jenem heiteren, fröhlichen, neckischen Wesen an ihr zu bemerken.

Hatten diese – wie von vielem Weinen – erschlafft herabhängenden Lippen damals so herzhaft den jungen Mann küssen können? Hatten sie so fröhlich gesungen: „Zufriedenheit ist mein Vergnügen!“? Hatten sie so schelmisch gerufen: „Spitzbube, Du bist es!“? Und hatten diese rothen, verschwollenen Augen damals so glücklich gelacht, als sie dem Burschen zurief: „Ich kratze Dir die Augen aus!“?

Sie war sehr verändert. Aber konnte diese Veränderung nicht eben Folge und Zeichen einer tiefen, schmerzlichen Trauer um den Verlust einer theuren Verwandten sein, die früher von ihr verkannt und gekränkt war und über deren Kränkung sie noch vorgestern in meiner Gegenwart so aufrichtige Reue ausgesprochen hatte? Und in ihrem noch immer frisch blühenden, hübschen Gesichte mochte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 425. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_425.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2018)