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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

No. 32. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Oberst Hußlar.
Ein Lebensbild von Ernst Fritze.




I.

In einem Thale, das sich breit gegen eine weite Ebene öffnet, während der Hintergrund mit schönen waldigen Höhen prangt, liegt ein Landstädtchen, das wir der Bequemlichkeit wegen Fürstenhall nennen wollen, weil es uns aus Gründen versagt ist, es mit dem wahren Namen zu bezeichnen.

Fürstenhall hat unendliche Vorzüge vor andern Provinzialstädten. Die Umgebungen sind anmuthig, die Luft frisch und rein, die Häuser in der Stadt allerliebst und die Menschen, welche darin wohnen, vortrefflich. Ein kleiner Landsee, welcher von der Ebene herein bis zu den ersten Häusern der sogenannten Vorstadt, sich zieht, erhöht nicht allein die Reize der Gegend, sondern mischt die Anmuth mit dem Nutzen, indem er die Veranlassung zu Kaltwasserheilanstalten, Badehäusern und Badebassins gab.

Alle die Vorzüge dieses kleinen Fleckchens Erde machen es erklärlich, daß sich eine Menge Reisende, namentlich kränkliche junge und alte Damen, Hypochondristen und Podagraleidende, fanden, die dort für die Sommermonate ihren Aufenthalt nahmen, und das stereotype Einerlei einer unausbleiblichen Kleinstädterei in ein buntes, bewegliches Leben voll Abwechselung verkehrten. Fremde flogen aus und ein. Die Häuser, alle elegant erhalten und hübsch möblirt, wurden monatsweise vermiethet, in einigen Gasthöfen errichtete man eine table d’hôte, und die hübschen Bergwaldungen hatten bald das Ansehen eleganter Parkanlagen erhalten. Der Wohlstand der Einwohner stieg und die Speculation, das nachgeborne Kind jedes unerwartet glücklichen Erfolges, erwachte.

In Fürstenhall wohnte seit mehr als zehn Jahren die Medicinalräthin Schlesing. Sie war Wittwe seit dieser Zeit, und hatte zur Vermehrung ihrer sonst schon ganz guten Existenzmittel ein großes Haus daselbst gekauft, und theilweise zu chambres garnies eingerichtet. Die Dame verstand es, ihren Einrichtungen ein nobles Ansehen zu geben. Sie hielt sich einen Portier, der, für freie Wohnung auf dem Hofe, die Geschäfte eines Eincassirers und Verpflegers der fremden Hausbewohner übernommen hatte. Sie selbst thronte in der Bel–Etage wie eine Königin, und ließ sich nur in einzelnen Fällen herab, mit ihren Miethern Freundschaft zu schließen. Dabei war sie aber keineswegs hochmüthig und eingebildet. Ihr Betragen entsprang mehr aus Gründen der Klugheit und durch Einwirkung einer bis zur weitesten Ausdehnung gelangten Bequemlichkeitsliebe. Stolz und Hochmuth wären auch am unrechten Orte gewesen, da sie besser als jeder Andere wußte, was es mit ihrem klangreichen Titel für eine Bewandtniß habe. Ihr verstorbener Mann war Wundarzt erster Classe gewesen, hatte sich durch einige gut geheilte Arme und Beine einen Namen zu machen gewußt, war endlich so glücklich geworden, den Thronerben eines kleinen Fürstenhauses von einer Nackengeschwulst zu befreien, und war von diesem auf seine specielle Bitte zum Medicinalrathe ernannt, weil er den Doctortitel nicht hatte erlangen können. Bald darauf starb er, und hinterließ seine kinderlose Gattin als stattliche Medicinalräthin mit einem hinreichenden Einkommen, das sie auf eine sehr bequeme Weise noch bedeutend zu vergrößern wußte.

Der Monat Mai war immer der Zeitpunkt, wo die schwachen, lahmen, müden und gelangweilten Fremden von nah und fern herzuströmten, um Fürstenhall als Abhülfe aller innern und äußern Gebrechen zu versuchen.

Unsere Medicinalräthin hatte ihre Zimmer sämmtlich schon vermiethet und sogar in ihren eigenen Apartements für diesmal eine junge, blasse, aber bildschöne Frau mit einem eben so hübschen, doch kerngesunden und blühenden Mädchen von drei Jahren aufgenommen. Die junge Dame wurde einfach Frau Hußlar genannt, sah jedoch einer vornehmen Dame gar nicht unähnlich. Das kleine Mädchen rief man Pauline.

Drei Wochen wohnten diese Zwei schon bei der Medicinalräthin, welche von ihnen „Tantchen“ genannt wurde, als eines Tages der Postbote einen Brief abgab, den die alte Dame mit großem Erstaunen betrachtete.

„Von meinem Schwager, dem Oberst!“ rief sie überrascht. Ein Schrecken schien die junge Frau zu durchfliegen, sie ließ ihre Stickerei in den Schooß sinken, und sah ihre Verwandte sprachlos an, bis diese zu Ende gelesen hatte.

„Das ist ein sonderbarer Zufall,“ sprach die alte Dame, nachdenklich über den Brief weg zu Frau Hußlar aufschauend. „Hören Sie, liebe Nichte, was er schreibt:

 „Hochweise Frau Schwester.
„Es sind fünf Jahre, seit wir uns nicht gesehen haben. Wir sind Beide in der Zeit nicht jünger geworden. Der Aerger über meine Jungens hat mich erst desperat, dann krank gemacht. Meine Milz, meine Leber, meine Nieren und meine Lungen haben von all’ der Galle gelitten – ja, ja! und der Medicus, nicht so einer, wie Ihr seliger Mann, der Beine und Arme abschneidet, der meint, Fürstenhall könne meine alte Maschine etwas einölen helfen. Mir ist’s egal, wo ich lebe. Hier wie da bin ich ein alter verlassener Vater, der das Unglück hat, zwei Taugenichtse zu Söhnen zu haben. Sie wissen’s doch, weise Christine,
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 453. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_453.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)