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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

zur Erholung – ihres Hausarztes und der daheim gebliebenen Angehörigen. Saphir schreibt ihnen die Erfindung der Badereisen zu: „Ich stelle sie mir vor, diese Frau mit dem mondscheinblassen Gesicht, dem petersilienfarbigen Teint und dem Leben einer Herbstfliege: wie sie nur vom Scheintod erwacht, wenn ihr das Kammermädchen eine Locke schief gewickelt hat. Ich höre sie über Appetitlosigkeit klagen, wie sie von den dreißig Speisen, welche den kleinen Mittagstisch ausmachen, überall nur ein Wenig kostet. Ich bemerke, wie die Dienerschaft nach allen vier Winden läuft, um den Doctor zu holen. Ich sehe, wie der Nachkomme des Aesculap seinen mächtigen Perrückenkopf schüttelt, keine Symptome eines Uebels findet, und endlich auf den Gedanken kommt, die Krankheit sei aus der Luft gegriffen und daher eine Luftveränderung nothwendig!“ In der That ist diese medicinische Mekkawallfahrt, wie Saphir sagt, contagiös geworden. Es mag wohl der vierte oder dritte Theil der gesammten Badereisenden zu den Nörgelanten gehören. Das Talent, mit ihnen umzugehen, bildet sogar ein Haupterforderniß eines guten Brunnenarztes, und sie sind es andererseits, welche denselben am raschesten abnutzen.

In der That, es ist keine Kleinigkeit, den ganzen Tag quängeln zu hören, mit und ohne Grund. Das bringt den Mann mehr herunter als Strapazen und Schreckdinge, welche ihm die Nerven stählen. Wer daher als Arzt straff bleiben, sich die Schärfe der Diagnose und die Entschiedenheit im Handeln bewahren will, der pflegt sich die Nörgelkranken thunlichst (und mit Manier) vom Halse zu halten. Denn sonst verfällt man leicht in den Gewohnheitsfehler, auch da an eingebildete Krankheiten zu denken, wo hinter den Klagen wirkliche, entschiedene Krankheiten (z. B. Neuralgia, Gallensteine, Bandwurm, Darmverengung, beginnende Krebs- oder Tuberkelbildungen, bevorstehende Seelenstörungen) verborgen sind. Wer in solchen, nicht seltenen Fällen weiter nichts zu thun weiß, als die Leute zu trösten und mit Scheinmittelchen hinzuhalten, der läuft Gefahr, daß zum Heil des Kranken ein schärfer sehender oder entschlossenerer Arzt herbeigeholt wird, welcher in den erstgenannten Fällen durch rasch durchgreifende Hülfe, in den letztgenannten durch eine rechtzeitig ausgesprochene Diagnose und Prognose den Fall in’s Klare stellt und die Wissenschaft über die gemeine Routine trimphiren macht.

Dr. –r. 




Die Wassersnoth in Sachsen.
I. Glauchau

Die letzten Tage des Juli bis zum 3.–4. August waren für Sachsen und einen großen Theil von Böhmen und Schlesien Tage der Angst und des Schreckens, wie sie seit langen Jahren nicht verlebt wurden. Nach wochenlanger drückender Hitze stürzte endlich am 28. Juli der langerwartete Regen, aber in so furchtbaren und anhaltenden Strömen herab, daß sehr bald alle Bäche und Flüsse austraten und die benachbarten Fluren überschwemmten. Mit jeder halben Stunde hob sich die Wassermasse zu einer früher nicht gekannten Höhe, und stürmte zerstörend und Brücken, Dämme und Häuser mit sich fortreißend, in die Tiefe der Thäler und Ebenen hinab. Besonders war es in Sachsen das Muldenthal, von Zwickau bis nach Wurzen herab, dessen Fluren und Ortschaften nach allen Seiten hin in schreckenerregender Weise überschwemmt wurden. Zwickau, Glauchau, Penig, Colditz, Wolkenburg, Grimma standen tagelang bis über die erste Etage in Wasserfluthen, an einigen dieser Orte sind 50 und mehr Häuser weggerissen und eben so viele dem Einsturz nahe. Eisenbahnstrecken von 200 und mehr Ellen wurden vernichtet, und Menschenleben in Masse gingen verloren. Neben der Mulde waren es indeß auch die Pleiße, Elster, Chemnitz und Weiseritz, die aus ihren Ufern traten und furchtbare Verheerungen anrichteten, so daß Millionen kaum hinreichen werden, den Schaden zu decken.

Die Redaction der Gartenlaube hat sofort nach Eingang der betrübenden Nachrichten tüchtige Künstler an die am meisten dem Wasser ausgesetzten Ortschaften gesandt, um naturgetreue Abbildungen aufzunehmen, die ein deutliches Bild des Unglücks geben. Außerdem sind Veranstaltungen getroffen, daß die detaillirten Schilderungen nur von Augenzeugen geliefert werden, und so dürfen sich unsere Leser der Ueberzeugung hingeben, daß sie keine aus Zeitungsberichten zusammengerafften Beschreibungen, sondern authentische, auf eigene Anschauung gegründete Schilderungen lesen.


Schon oft und zu verschiedenen Zeiten ist die Mulde entweder in Folge des Thauwetters oder durch bedeutende Regengüsse zum Strome angeschwollen und hat dann, die Ufer überschreitend, ihr schönes Thal unter Wasser gesetzt, was sich indeß stets in kurzer Zeit wieder zu verlaufen pflegte.

Mit diesem Ereignisse waren die Bewohner der Stadt Glauchau durch die fast gleichmäßige Wiederkehr im Laufe der Zeiten so bekannt und vertraut geworden, daß sie meinten, Höhe, Umfang und Dauer einer solchen Ueberströmung ziemlich sicher im Voraus bestimmen zu können. Der höchste Wasserstand und die gewaltigste der Ueberfluthungen hatte seit Menschengedenken einen größeren Schaden kaum angerichtet, als daß vielleicht das große Wehr eingerissen, oder die dem Muldenflusse nächstgelegenen Felder und Wiesen mit Sand und Schlamm belegt, oder höchstens eine Hausflur der wenigen Anwohner der Mulde eingenäßt worden war.

Daher kam es auch, daß besonders seit dem zweiten Jahrzehent unseres Säculums, als die Industrie Glauchau’s sich entfaltete, man kein Bedenken trug, in unmittelbarer Nähe der Mulde Wohnungen aufzubauen, denn bis dahin war solches nur von Seiten der Leute geschehen, die zu ihrem Gewerbe hauptsächlich des Wassers bedurften.

Während die alte Stadt Glauchau auf der an östlicher Seite des Muldenthales befindlichen Höhe lag, entstand so im Thale selbst, zu beiden Seiten des Mühlgrabens und der Mulde, nach und nach ein neuer Stadttheil, den man mit dem Namen des Wehrdigts belegte, während man das ursprüngliche, auf der Höhe liegende Glauchau die Oberstadt oder auch kurzweg die Stadt zu nennen anfing.

Dieser sogenannte Wehrdigt hat nun von Jahr zu Jahr sich vergrößert und erweitert und auch verschönert. Aus Gassen sind Straßen geworden und inmitten der bekannten großen Etablissements in Spinnerei, Färberei, Druckerei und Tuchscheererei, in Fabrikation wollener, baumwollener und halbseidener Waaren, in Eisengießerei und Maschinenbauwesen stehen die vielen Häuser und Häuschen der Musterschläger, Weber, Handwerker, Arbeiter und verschiedener anderer Leute, welche das Thal der Höhe vorgezogen haben, so daß man die Bewohner dieses Stadtteiles jetzt mit Bestimmtheit über dreitausend annehmen kann.

Die auf der Höhe sich lang ausdehnende Oberstadt mit ihren beiden Schlössern der erlauchten Grafen von Schönburg, mit ihren großen und kleinen Thürmen und mit ihren vielfensterigen Häusern der verschiedensten (alten und neuen) Bauart schaut von oben herab auf den Wehrdigt, wie eine achtbare, ehrwürdige Mutter auf die muntere, rührige Tochter.

Besonders in neuester Zeit war für die Erweiterung und Verschönerung Glauchau’s Vieles und für die Hebung des Lebens selbst in allen Beziehungen Bedeutungsvolles und Wichtiges geschehen. – Die Eisenbahn, welche, von Chemnitz her über Glauchau nach Zwickau sich ziehend, mit ihrem hohen Damme, mit ihrer schönen Muldenbrücke und ihrem aus vielen Bogen bestehenden Viaducte das Thal quer durchschneidet, sollte nächstens feierlich eröffnet werden; schon waren überall in Glauchau die Gasröhren gelegt und deren aufgestellte Candelaber harrten dem Abende ihrer ersten Lichtströmung entgegen; auf dem Wehrdigt waren längst des Muldenflusses zu Fahrstraßen aufgefüllte Dämme ihrer Vollendung nahe; die Oberstadt war mit Schleußen und mit einer künstlichen Wasserleitung versehen worden, welche das flüssige krystallene Element bis in die obersten Stockwerke der Häuser treiben kann; der Bau einer neuen großen Bürgerschule ist längst in Angriff genommen, und nur des letzten Werkes, einer durchgehenden Pflasterung mit Trottoirs, bedurfte es noch, um Glauchau in vollendetem Zustande der Zukunft übergeben zu können.

Man freute sich dieser durchgängigen Vervollständigung, wie viele Opfer sie auch schon gekostet hatte und wie viele Opfer sie auch noch kosten mußte; die Tafeln, so zu sagen, woran die nachfolgenden Geschlechter speisen sollten, waren schon fast durchgängig

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 490. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_490.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)