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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Hindu’s, aber viel, deren Abscheu zu verdienen. Tausende von Edelleuten, Würdenträgern und Beamten, welche zu Zeiten des Königs einträgliche Stellen bekleidet hatten und die zu faul zum Arbeiten waren, steckten tief in Noth und Elend, und Myriaden ihrer früheren Diener und Gehülfen waren ebenfalls beschäftigungslos und bitteren Entbehrungen preisgegeben. Ferner sah eine Unzahl von Leuten, welche unter der früheren Regierung als Vagabunden, Banditen und Bettler mit Rauben, Morden, Plündern und Stehlen ein sorgenfreies und theilweise ganz lustiges Leben geführt hatten, seitdem wir an’s Ruder gelangt waren, den Hungertod vor Augen. Die eingebornen Kaufleute, Krämer und Bankiers, welche, so lange Wajid Aly auf dem Throne saß, so ansehnlichen Gewinn aus den Luxusbedürfnissen gezogen hatten, die sie dem Könige, seinem üppigen Hofe und den reichen Weibern in den wohlgefüllten Harems lieferten, fanden für ihre Waaren keinen Absatz mehr; und das Volk im Allgemeinen, besonders aber die ärmere Classe, war unzufrieden darüber, daß es direct und indirect so sehr mit Steuern aller Art überladen war.

„Wir hatten“ – fährt Ruutz Rees fort – „uns gar zu sehr bemüht, auf der Creditseite unserer Bücher eine ansehnliche Bilanz zu ziehen, daß wir uns weniger darum kümmerten, das indische Volk glücklich zu machen, als vielmehr, es unsere Schatzkammern füllen zu lassen. Da gab es eine Stempeltaxe, eine Steuer auf Eingaben, auf Futter und Häuser und einen Zoll für Lebensmittel, für Wege und Fähren zu entrichten. Da gab es einen Opiumlieferanten, einen Korn- und Mehllieferanten, einen Salz- und Branntweinlieferanten, und in der That wurden alle Gegenstände, die man in Paris unter dem Begriffe Octroi zusammenfassen würde, in Accord gegeben. Jeder mehr oder minder zur Nahrung dienende Artikel war demzufolge sehr theuer und die Lieferanten, unter denen der Reichste ein gewisser Shirf ed Dawlah war, ein Renegat, der sogar unter der Regierung des Königs wegen seiner gröblichen Unterschleife und Betrügereien berüchtigt gewesen – zu einer Zeit, wo doch Diebstahl und Raub bei hellem Tageslicht begangen wurden – erwarben sich Schätze, während das Volk unter ihren Erpressungen darbte.

„Besonders die Steuer auf Opium verursachte eine grenzenlose Mißstimmung im Lande, vornehmlich aber in Lucknow. Opium war ein Artikel, der in jener Stadt ein ebenso allgemeines Bedürfniß war, wie in China; und die Entziehung dieser so beliebten Waare fiel als ein harter Schlag auf die ärmeren Opiumesser. Mancher, der nicht reich genug war, den erhöhten Preis bezahlen zu können, schnitt sich aus Verzweiflung darüber den Hals ab. – Auch Fanatiker waren zahlreich in der Stadt und verstanden den religiösen Enthusiasmus zu benutzen, um ihre Glaubensgenossen noch heftiger gegen die eingedrungenen Engländer aufzuregen. Jeder echte Muselmann ist im Grunde seiner Herzens ein geborener Feind aller Bekenner des Christenthums, wie sehr er auch zeitweise seine Gefühle verbergen oder wie viele Wohlthaten und Liebesdienste er aus deren Händen empfangen haben mag. Einen Ungläubigen zu Grunde zu richten oder zu morden, ist eine verdienstvolle Handlung. Lucknow war einer der Hauptsitze muhamedanischer Gelehrsamkeit und wir brauchen uns darum nicht zu verwundern, wenn die zahllosen Prediger, die gegen die Engländer aufstanden und ihrer Herrschaft fluchten, eine große und beistimmende Zuhörermasse fanden. Sie überzeugten ihr Publicum leicht, daß eine Auflehnung gegen die Engländer dem Himmel gefällig und angenehm sei, und daß Allah jeden Versuch mit Erfolg krönen werde, das verhaßte Joch der ungläubigen Fremden abzuschütteln und die Bande zu zerreißen, in welchen die Plünderer ihres Königs, die Schänder und Verächter ihrer heiligen Religion, die Esser des unreinen Thieres, die Säufer des verbotenen Trankes sie gefesselt hielten. Und, Glaubenseifer mit Verschmitzheit paarend, fügten sie hinzu, daß auch für die Hindu’s der Tag gekommen sei, wo ihre Religion mit Füßen getreten und sie selbst getauft und gezwungen werden wollten, sich mit dem Fette von Kühen zu beschmutzen und unreines Fleisch zu essen. Bald erblickte die andächtige Gemeinde in den Verbrechern, die am Galgen büßten, Märtyrer einer guten und heiligen Sache.“

Sir Henry Lawrence hatte bei einer solchen Stimmung, und nachdem bereits an vielen anderen Orten Empörungen ausgebrochen waren, den Belagerungszustand als Statthalter von Lucknow ausgesprochen und die umsichtigsten Vorkehrungen getroffen, als in der Nacht vom 30. auf den 31. Mai 1857 die Meuterei unter mehreren indischen Truppenabtheilungen, welche zahlreiche Insurgentenhaufen verstärkten, ausbrach. Wir übergehen die Einzelheiten der Belagerung, durch welche die Residenz von Lucknow immer enger eingeschlossen wurde, nachdem Sir Henry alle getreuen Verstärkungen an sich gezogen und in die Residenz geworfen hatte. „Die letzte Kanone und der letzte Mann“ – erzählt Ruutz Rees – „waren ungefährdet innerhalb der Mauern der Residenz, als ein entsetzlicher Donnerschlag die Erde erschütterte. Der Zündfaden der Engländer hatte sein Werk gethan und Fort Matchee Bhawn – ein Außenwerk von Lucknow – war nicht mehr! Alle unsere Kriegsvorräthe, die wir nicht Zeit gehabt hatten, zu entfernen, etwa 250 Fässer Pulver und viele Millionen scharfer Patronen waren mit den Gebäuden, worin sie gelegen, zu gleicher Zeit vernichtet. Eind undurchdringliche schwarze Wolke hüllte sogar uns in der Residenz ein, – Dunkelheit überdeckte ein sternenreiches leuchtendes Firmament. Wir hatten in der That der Verstärkungen bedurft. Alle, bis auf einen Mann, waren gerettet. Dieser Eine lag sehr betrunken in irgend einem stillen Winkel und konnte nicht aufgefunden werden, als die Truppe antrat. Die Franzosen sagen: Il y a un Dieu pour les ivrognes, und die Wahrheit des Sprüchwortes hat sich wohl nie besser bewährt, als in dem Falle dieses Mannes. Er war in die Luft geschleudert worden und unverletzt zur Mutter Erde zurückgekehrt, hatte sich in seinem gesunden Schlafe durchaus nicht stören lassen, war am nächsten Morgen erwacht, hatte zu seinem nicht geringen Staunen das Fort in einen Schutthaufen verwandelt und verlassen gefunden, von keiner Menschenseele belästigt, gemächlich den Marsch nach der Residenz angetreten und sogar noch ein paar Ochsen, vor einen Munitionswagen gespannt, mitgebracht. Unsere Leute waren nicht wenig überrascht, als sie ihn schreien hörten: „Das Thor auf, ihr verfluchten Kerls!“ und ließen ihn ein, fast berstend vor Gelächter.“

Ueber die homerische Art des Kämpfens führt unser Berichterstatter eine ergötzliche Anekdote an. Ein Posten von Junes’ Piket wurde von einem kleinen Knirps, Namens Bailey, einem Volontair, dem Sohne eines eingeborenen christlichen Capitains in der Armee des Exkönigs, und von einem paar Sepoys mannhaft vertheidigt. Der junge Mensch sprach so geläufig hindustanisch und schimpfte und schalt hinter seinen Pallisaden vor nach so echt indischem Nationalgebrauche, daß die Meuterer ihn für einen muhamedanischen oder Hindu-Sepoy hielten und ihm antrugen, sein Leben zu schonen, wenn er seine Waffen strecken und ihnen beistehen wollte. Eine sehr lebhafte und interessante Unterhaltung entspann sich.

„Komm,“ rief ihm einer der Rebellen zu, welcher, nicht fünf Schritte von Bailey’s Pallisade entfernt, eine sichere Deckung in einer der vielen benachbarten Hütten gefunden hatte, „komm herüber zu uns und lasse die verfluchten Feringhees (Franken, ein Collectivname für alle Fremden) im Stiche, deren Mütter und Schwestern wir geschändet haben und die wir heute Alle umbringen werden. Komm, was hast Du mit ihnen zu schaffen? Willst Du Dich auch zum Christen machen lassen? (piff, paff!) oder hast Du gar schon Deine Kaste verloren?“

„Da schenk’ ich Dir ’was,“ schrie Bailey und drückte los; „Glaubst Du, ich hätte auch Schweinefleisch gegessen, wie Du? Glaubst Du, ich sollte mich auch so schmachvoll versündigen und meinem Satze untreu werden? Nimm dies, Du Sohn des Hundes! (piff!) Du, dessen Großvaters Grab ich besudelt habe!“ (paff!)

„Warte nur, Du Bankert einer entehrten Mutter,“ drohte ein Anderer, „wir kommen schon. Ich werde gleich bei Dir sein und über Eueren lumpigen Wall springen. Mein Schwert ist scharf.“

„Wahrhaftig?“ höhnte Bailey, „aber Dein Herz ist feig. Komm nur daher, Du Maulaufreißer! Mein Bajonnet wartet auf Dich, steige herauf! Wir Alle sind bereit, und Dein Schandblut taugt gerade recht gut dazu, von meinem Bajonnet den Rost wegzuwischen. Halt ein wenig, es kommt wieder eine!“ (piff!)

Und los knallten wieder ein Dutzend Raketen, unterdessen von den andern Sepoys geladen, welche nicht länger den Drang bezähmen konnten, ihrem Landsmanne auch im Schimpfen tüchtig beizustehen. –

Ueber den hohen Muth und die ruhige Ausdauer des weiblichen Theils der Besatzung von Lucknow äußert sich Ruutz Rees in sehr lobender Weise.

„Ihre stille Ergebung und herzinnige Frömmigkeit“ – sagt er – „gab unseren Frauen gerechten Anspruch auf ungetheilte Bewunderung.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 502. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_502.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)