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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

aber ebenfalls kranken Mann und eine noch unverheirathete Tochter; aber das sei eine gute Tochter; sie habe nicht heirathen wollen blos ihrer alten, kranken Eltern wegen. Das kam der Herzogin etwas schwer zu glauben vor. Es heirathen oft Mädchen aus andern Gründen nicht und sagen dann, sie thäten es der alten Eltern wegen.

Die Herzogin wollte hierzu Gewißheit haben: entweder sollte man ihr so etwas nicht sagen, oder dann wollte sie eine so brave Tochter auch sehen. Sie wünschte, daß man sie rufen möchte. Die Tochter, die schon vor gewöhnlichen Herrenleuten schüchtern ist, erschrak nicht wenig, als sie vor der Herzogin erscheinen sollte und zwar gerade so, wie sie im Augenblicke gekleidet war. Die Herzogin fragte sie, ob sie denn auch gut hätte heirathen können. O ja, sagte das Mädchen, es hätte Einen bekommen, bei dem es Milch und Anken (Butter) genug gehabt hätte. Und Milch, und Anken genug erheirathen, gilt in Linththal und auch wohl noch anderswo für gut heirathen. Jetzt hatte die Herzogin genug. Sie lobte die gute Tochter, und gab ihr für das arme Mütterchen sechs Franken Geld. Mehr hatte sie wahrscheinlich nicht bei sich; sie war auf dem Rückwege begriffen, und den allerletzten Fünffränkler hatte sie vor dem gleichen Hause einer andern armen, wassersüchtigen Frau gegeben, die dann bald darauf starb. Es war der letzte ganze Thaler, den sie in diesem Leben noch erhalten hatte. Dann sagte die Herzogin zu der Tochter, sie solle mit ihr in’s Bad kommen. Und da erhielt sie denn eine größere Gabe.

Nach ein paar Tagen kam die Herzogin mit ihrer Gesellschaft wieder vorbei. Weil es ein schöner Tag war, saß das kranke Mütterchen auch wieder da. Diesmal wollte die Herzogin aber auch den alten kranken Mann sehen. Der war aber oben auf der Kammer im Bett. Das ganze Haus war klein, und machte schon im Voraus einen verdächtigen Eindruck, ob man da auch gut in die oberen Stockwerke hineingelangen könne. Sie fragte, wie man da hinaufkomme. Der verheirathete Sohn, der Hauseigenthümer und zugegen war, sagte, da könne man nicht anders hinauf als aus der Stube hinter dem Ofen; eine Treppe von außen führe nicht hinauf. Und so ist es in der That in diesen Glarner Häusern, daß man von der Stube aus hinterm Ofen in die Stubenkammer hinaufgelangt, besonders im Winter eine vortreffliche Einrichtung. Aber in Herrenhäusern und in rechten Krügershäusern ist außer dem „Ofenschmuck“, wie man das Ding heißt, außen im Treppenhause auch noch ein Zugang; auch ist die Treppe in der Stube zwischen Wand und Ofen breit genug, daß man sie bequem passiren kann, und vom Ofen führt wieder ein kleines Treppchen weiter. Das war aber in Maurer Andresen’s Haus in Ennetlinth alles nicht der Fall. Für’s Erste konnte man da von außen auf diese Kammer gar nicht gelangen. Zweitens war der Ofen sehr groß, ging nahe an die Wand und ließ nur ein schmales Gängchen offen. Drittens führte vom Ofen gar keine Treppe mehr weiter. Das letztere ist fast eine allgemeine Eigenschaft der Linththaler „Ofenschmücke.“ Da hat man also nichts vor sich, als über dem Ofen eine viereckige Oeffnung in dem Kammerboden; mit dem Leibe ragt man in die Kammer hinein und die Beine sind noch in der Stube auf dem Ofen. Da heißt es, mit den Armen sich auf den Kammerboden aufstämmen und einen wackeren „Hupf“ thun. Manchmal ist an der Wand noch eine Leiste Holz angenagelt; da kann man unterwegs den linken Fuß aufsetzen. Der Graf von Paris sprach zu seiner Mutter in der Stube:

„Mama, da kommen Sie nicht hinauf!“

Die Herzogin von Orleans, die gerade mit diesem Sohne, dem Grafen von Paris, schon nach andern Orten, wo’s viel böser war, den Weg gefunden hatte, ließ sich so leicht nicht abschrecken. Sie faßte ihr weites schwarzes Kleid etwas zusammen, und rasch war sie oben beim alten Maurer Andres. Der Graf von Paris folgte ihr nach. Hier setzte sie sich neben dem armen Mann auf ein anderes Bett. Stühle haben oben auf solchen kleinen Kämmerchen, besonders wenn mehrere Betten darin sind, keinen Platz. Sie unterhielt sich mit dem armen Manne über eine Viertelstunde lang. Der alte Schweizermann verstand die hochdeutsche Sprache der ehemaligen deutschen Prinzessin nicht gut, und war überdies von dem Ereignisse, daß ihn eine solche Frau besuchte, so ergriffen, daß ihm nur Thränen über die Backen herunter rollten. Er konnte nicht viel reden, aber einen Eindruck hat er bekommen, den er nicht mehr vergaß. – Als die armen Leute unlängst in Linththal hörten, die Herzogin von Orleans sei ohne Todeskampf gestorben, glaubten sie es Alle gern, und Viele sagten, das hätte sie um die Armen verdient!

Der Graf von Paris wollte nun auch wissen, wie sie das arme gliedersüchtige Mütterchen da auf die Kammer hinaufbrächten. Da erzählte ihm denn der Sohn: Eines setze sich auf den Ofen und ein Anderes auf der Kammer greife ihr mit den Händen unter die Arme, und so ziehen sie sie hinauf. Da meinte der Graf von Paris, das sei nicht gut, und er wollte schon dafür sorgen, daß es anders werde. Das Wort hat das arme Mütterchen nie wieder vergessen. Sie erzählte Jedem, was der Graf von Paris von ihrem Schicksal gesagt habe, und jedesmal kommen ihr dann die Thränen der Rührung in die Augen.

Als die hohe Frau wieder aus dem Hause getreten war, ging sie mit ihrer Gesellschaft, die unterdessen gewartet hatte, ein wenig auf die Seite. Dort nahm sie ihren Hut ab, und ohne ein Wort zu sagen, nur mit dem bittenden Blick im Auge, ging die edle Dame betteln von Einem zum Andern, und Alle gaben in schönen blitzenden Goldstücken so viel, daß der armen Frau geholfen war auf lange – lange Zeit. Was diese sagte, unter Thränen und Schluchzen, als die Herzogin ihr die Goldstücke in den Schooß schüttete, weiß ich nicht, ich weiß nur, daß sie wünschte, die Tochter möge ihr das Gold in Silber auswechseln; Silber sei schwerer und mache einen größeren Haufen; und dann sollte sie ihr das Geld in die Hand geben; einen Augenblick möchte sie es doch auch haben; sie habe in ihrem Leben nie so viel Geld bei einander gehabt. Was sie nun empfand, als ihr die Tochter die Hand öffnete und die armen, gekrümmten Finger einen nach dem andern von einander that, und die dreißig Fünffrankenthaler hineinlegte, das wolle jetzt der liebe Leser selber überdenken.

Die Familie der Orleans hat viel verloren, aber nichts hat sie mehr zu beklagen, als den Verlust dieser hochedlen Frau und echt deutschen Mutter.




Die Brüder Grimm.

Auf dem Wege nach der Universität oder in den öffentlichen Sitzungen der königlichen Akademie in Berlin, wo die Notabilitäten der Wissenschaft sich von Zeit zu Zeit zu versammeln pflegen, sieht man meist zwei hohe Gestalten nicht getrennt, sondern miteinander erscheinen, als wären sie durch ein geheimnißvolles Band vereinigt. In ihrem schlanken und doch festen Wuchs, in der würdigen Haltung Beider, wie in ihren ausgeprägten Zügen, gibt sich schon äußerlich eine entschiedene, verwandtschaftliche Aehnlichkeit zu erkennen. Dasselbe graue, gelockte Haar, dieselben klaren, blauen Augen, die gleiche hochgewölbte Stirn drücken ihrem Gesicht das Gepräge und die Merkmale auf, welche vorzugsweise dem deutschen Volke eigen: Offenheit, beharrliche Ausdauer, sinnigen Forschertrieb und Treue gegen sich und Andere.

Aber trotz dieser auffallenden Aehnlichkeit, die sich auch auf Kleidung und alltägliche Gewohnheiten erstreckt, verräth sich dem genaueren Beobachter in der bloßen, äußeren Physiognomie, daß wir es hier mit zwei in sich abgeschlossenen Individualitäten zu thun haben, deren jede fest auf ihren eigenen Füßen steht; die sich zwar ergänzen, aber nichts von ihrer Eigenthümlichkeit darum aufgeben, die zu einander gehören, ohne ihre Selbstständigkeit einzubüßen, deren Verbindung nicht auf den dunklen Banden des Blutes allein beruht, sondern aus dem gleichen geistigen Streben, aus derselben Erkenntniß des Wahren, Guten und Schönen hervorgegangen ist.

So stehen zwei Eichen in demselben Boden, deren Wurzeln sich verschlingen, deren Zweige sich umarmen, deren Stämme aber doch gesondert emporsteigen; der eine knorriger und breiter, der andere glatter und schlanker, bald mit dichtem, dunklem, bald mit hellerem, sonnigerem Laub bekleidet, hier einen jungen Schoß treibend, dort einen alten Ast ausstreckend; ähnlich in ihrer Verschiedenheit, verschieden in ihrer Aehnlichkeit.

Zwei solch’ deutsche Eichen sind die Brüder Grimm, die man sich nicht getrennt denken kann, deren Namen stets zusammen klingen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 558. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_558.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)