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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

No. 40. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Ein Kirchhofsgeheimniß.
Mitgetheilt vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“


„Es gibt gute, es gibt schlechte Gesetze. Nicht jedes Gesetz setzt das Recht fest. Wie wenige! Aber das schlechteste Gesetz kann unschädlich werden in den Händen eines verständigen, gerechten, humanen Beamten. Und das beste Gesetz ist nichts werth in den Händen eines schlechten Beamten. Und wie gute und schlechte Gesetze, so hat es auch zu allen Zeiten gute und schlechte Beamte gegeben.

Ueberheben wir uns nicht über die Zeit vor uns. Sagen wir nicht, wenn uns so manchmal nur die Gebrechen früherer Rechtspflege vorgehalten werden, sagen wir nicht pharisäisch hochmüthig: das kann jetzt nicht mehr vorkommen!“

So schrieb mir vor wenigen Tagen ein sehr alter Criminalist aus Deutschland, indem er mir die nachfolgende Geschichte ausdrücklich zum Zwecke ihrer Veröffentlichung mittheilte. Die Zeit seiner Geschichte liegt fünfzig bis sechzig Jahre hinter uns. Das, was er erzählt, ist wahr und belehrend auch für die jetzigen Zeiten.

Er erzählt:

Ich war ein junger Amtsauditor.

Amtsauditoren, Referendarien, Aspiranten, Praktikanten – die Unzahl junger Männer, die in Deutschland nach vollendeten Universitätsstudien bei den Behörden ihres Vaterlandes arbeiten, um sich als tüchtige Mitglieder der Büreaukratie auszubilden, hat viele Namen, wie – die lieben Kinder.

Sie sind auch liebe Kinder. Dem Rathe, der ihnen seine Arbeiten übertragen kann; dem Staate, der ihnen für ihre Arbeiten nichts zahlt; den jungen Mädchenherzen, die darnach seufzen, Frau Amtmännin, Frau Räthin, gar Frau Präsidentin, selbst Frau Ministerin zu werden. Amtmann, Rath, Präsident, Minister – der Auditor, der Referendarius, und wie sie weiter heißen, sie sind das Holz, aus dem Alles geschnitten werden muß. Sie sind auch glücklich, wie die lieben Kinder. Sie müssen zwar manchmal recht herzhaft schwitzen unter der Last ihrer Arbeiten, und sie erhalten nie auch nur einen rothen Pfennig dafür. Ja, man hat Beispiele, daß, wenn sie einmal, um sich zu erholen, Urlaub nehmen wollen, sie auf ihre Kosten einen Stellvertreter bestellen. Aber sie sind in der lustigen, kräftigen, goldenen Zeit der Jugend und die Welt ihres Staates steht ihnen offen. Es gibt im Lande kein Amt, bei dem sie nicht Amtmann werden, keine Rathsstelle, die sie nicht einmal einnehmen, keinen Präsidentenposten, auf den sie nicht künftig erhoben werden können. Man muß nur Muth und Vertrauen haben.

Ich arbeitete bei dem Amte meiner Heimath. Meine Heimath lag in einem Winkel des Landes. Auf diesen Winkel war meine künftige Carriere nicht beschränkt, denn auch mir stand das ganze Land offen. Es war gleichsam meine Domaine. Ich mußte meine künftige Domaine kennen lernen.

Als die nächsten Ernteferien kamen, trat ich eine Fußreise durch das Land an. So ganz absonderlich groß war damals, außer Oesterreich, kein deutsches Land, und in Oesterreich war ich nicht.

In den Ernteferien arbeitet der Landmann doppelt, und daher feiert der Richter.

„Kommst Du auch nach Z., mein Sohn?“ fragte mich meine Mutter.

Wie meine Heimath an dem einen, so lag Z. an dem andern, entgegengesetzten Ende des Landes.

Aber das ganze Land wollte ich kennen lernen.

„Gewiß,“ antwortete ich meiner Mutter.

„So erkundige Dich doch nach einer Jugendfreundin von mir, Nettchen Thalmann; sie ist von hier gebürtig, und später nach Z. gekommen.“

„Seit wann, Mutter?“

„Es können einige zwanzig Jahre sein.“

„Verheirathet oder unverheirathet?“

„Verheirathet.“

„Und wie hieß ihr Mann?“

„Den Namen habe ich vergessen. Aber der Mann war ein Mechanikus, ein Genie. Du wirst sie schon finden. Erkundige Dich, wie es ihr geht, und grüße sie von mir.“

Ich mußte lächeln. Mir fiel etwas Aehnliches bei.

Als ich vier Jahre vorher zur Universität abgegangen war, hatte mein Vater zu mir gesagt:

„Mein Sohn, vergiß ja nicht, den Professor B. zu besuchen und ihn und die ganze Familie von mir zu grüßen. Ich hatte als Student freundliche Aufnahme im Hause. Grüße besonders seine älteste Tochter, die schöne Auguste. Nimm Dich aber vor ihr in Acht, sie ist eben so gefallsüchtig wie schön. Sie wollte auch mich – Nun, ich hoffe, Du wirst nicht weniger verständig und besonnen sein, wie Dein Vater.“

Ich mußte es feierlich versprechen.

Ich kam zur Universität und in das Haus des Professors B.

Himmel, wie sah die „schöne Auguste“ aus, die vor fünfundzwanzig Jahren ihre Netze nach meinem Vater ausgeworfen hatte, vor der ich mich „in Acht nehmen“ sollte. Fünfundzwanzig Jahre vermögen über die Schönheit eines Mädchens doch etwas mehr, als mein Vater gedacht hatte. Freilich nicht immer über die Gefallsucht. Die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 565. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_565.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)