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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Der Beamte bedeutete ihn, er müsse nach den Ferien wiederkommen.

Der Amtmann sah den Bauer an.

„Ihr seid ein täglicher, unnützer Querulant am Gerichte; mit Euch wird nach der Strenge verfahren. Fort!“

Der Bauer ging.

Das waren kleine, an sich unbedeutende Züge, aber sie zeigten die strenge und zugleich gerechte Herrschaft des Amtmanns. Niemand hatte gewagt, seinen stets eben so kurzen wie entschiedenen Befehlen auch nur die Miene eines Widerspruches entgegenzusetzen. Es folgte ihnen stets ein sofortiger, unbedingter Gehorsam.

Desto mehr sollte ein anderer Vorfall mich überraschen.

Wir kamen in die Kanzleistube des Gerichts. Die Schreiber saßen emsig beim Schreiben; kein Platz an den langen Tischen war leer. Im Hintergrunde saß an seinem Bureau der Actuarius, der Inspector der Kanzlei. Er saß auf einem erhöhten Platze, so daß er stets die sämmtlichen Schreiber und ihre Thätigkeit überwachen konnte.

Unter den Schreibern fiel mir gleich beim Eintritt in das Zimmer ein Gesicht auf; es war lang, blaß, hohl, kränklich. Es war der junge Mensch, den ich eine halbe Stunde vorher in Gesellschaft des schönen jungen Mädchens an der Taxushecke neben dem Kirchhofe gesehen hatte, von dem ich überzeugt war, daß er in der vergangenen Nacht in so räthselhafter Weise mit mir auf dem Kirchhofe gewesen sei.

Er schrieb emsig, wie die Anderen, als ich eintrat. Als er sich dann aber, ebenfalls gleich den Anderen, mit einer natürlichen Neugierde halb scheu nach den Eintretenden umgesehen und mich erblickt hatte, wurde sein Gesicht plötzlich fahler und die Feder in seiner Hand wollte auf dem Papiere nicht mehr vorwärts gleiten; die Hand schien ihm zu zittern. Es fiel mir auf. Ich war indeß nicht der Einzige, der es bemerkt hatte; auch der wachsame Actuar sah es.

Dieser Mann war ein sonderbares Männchen, noch ziemlich jung, klein, rund, mit rothen Haaren, mit noch rötherem Gesicht, mit fliegenden und stechenden Augen, mit dem Ausdrucke des steten ärgerlichen, verdrießlichen, verbissenen Keifens.

Er war mit großer Ehrerbietung aufgestanden, als der Amtmann mit mir eintrat. Er hatte mit der ehrfurchtsvollsten Dienstfertigkeit die Journale, Listen und Bücher herbeigeholt, die der Amtmann mir zeigen wollte. Er hatte aber dabei keine Secunde lang die Schreiber aus den Augen gelassen, und es war ihm also auch nicht entgangen, daß der blasse, kränkliche junge Mensch nicht mehr schrieb. Sein Gesicht wurde röther, seine Lippen bissen sich fester aufeinander; lange konnte er seinen Aerger, seinen Ingrimm nicht in sich verschließen.

Während der Amtmann die Bücher mit mir durchging, trat er an den Schreibertisch zu dem jungen Manne.

„Warum schreibst Du nicht?“ sagte er zu ihm, leise, aus Respect vor dem Vorgesetzten, obwohl zitternd vor Zorn.

„Mir ist unwohl,“ antwortete der kränkliche Mensch mit einer kränklichen Stimme.

„Unwohl? Ja, ja, ich glaube es. Wenn man die Nacht herumläuft, dann kann man auch des Morgens nicht zur rechten Zeit in der Schreibstube sein.“

In das blasse Gesicht des jungen Menschen schoß eine dunkle Röthe; nur einen Augenblick lang, dann war es blasser, als vorher.

Ich war aufmerksamer geworden. Der Gescholtene war in der Nacht herumgelaufen! War das nicht eine Bestätigung seiner Anwesenheit auf dem Kirchhofe?

Er hatte dem Actuar nicht geantwortet. Dieser fuhr fort:

„Aber es soll anders mit Dir werden. Ich werde Dich zur Anzeige bringen, und ich muß es, mein Gewissen fordert es von mir, der Dienst.“

Er hatte seinem Gewissen, dem Dienste schon Genüge geleistet. Er hatte, wohl absichtlich, lauter gesprochen. Der Amtmann hatte die Worte gehört.

„Was gibt es da?“ fragte er, aber nicht mit der Strenge, die ich von dem gemessenen, strengen Manne erwartet hatte; seine Stimme hatte vielmehr etwas Zurückhaltendes, das mir auffiel.

Der zornige Actuar aber hielt nicht zurück.

„Herr Amtmann,“ sagte er eifrig, „der Brunner gibt mir wieder viele Veranlassung zu Klagen. Auch heute ist er wieder zu spät zur Arbeit gekommen, erst wenige Minuten, bevor der Herr Amtmann eintraten, und geschrieben hat er seitdem fast noch nichts.“

Durch das Gesicht des Amtmanns flog ein sichtbarer Unmuth. Er blieb aber vollkommen ruhig, und wiederum sprach er ohne Strenge, sogar mit einem gewissen, obgleich ernsten Wohlwollen, diesmal zu dem blassen jungen Menschen:

„Ich hoffe, Carl, ich höre keine fernern Klagen über Dich.“

Der Actuar aber wurde eifriger.

„Er will immer unwohl sein, Herr Amtmann. Ja, er ist es auch. Aber ist es ein Wunder? Auch heute Nacht ist er wieder nach Mitternacht nach Hause gekommen. Der Schließer hat es mir gesagt. Wo hat er sich herumgetrieben? Er will keine Rede darüber stehen, auch nicht, warum er jetzt wieder über eine halbe Stunde zu spät gekommen ist. Der Herr Amtmann behandeln ihn mit so vieler Güte, er verdient es nicht.“

Der Amtmann runzelte doch die Stirn, und ein wenig strenger sprach er zu dem jungen Schreiber:

„Carl, der Herr Actuar ist Dein nächster Vorgesetzter, und Du wirst ihm Auskunft darüber geben, warum Du die Zeit versäumt hast.“

Er wollte sich damit wieder zu mir wenden, aber ein sonderbarer Zufall hielt ihn zurück.

Der junge Schreiber hatte sich nicht gerührt. Er hatte fortwährend still vor sich hingeblickt auf den Bogen Papier, der vor ihm lag, an dem er geschrieben hatte, nicht genug nach der Meinung des diensteifrigen Actuars. Auf einmal fielen dicke, langsame Thränen aus seinen Augen auf das Papier. Man konnte sie fallen hören.

Unmittelbar vorher aber war plötzlich und hastig eine Seitenthür aufgerissen, und in der Thür stand ein schönes Mädchen von dreizehn bis vierzehn Jahren, mit hochgeröthetem Gesichte, mit blitzenden, funkelnden Augen. Es war die Gefährtin des kränklichen jungen Mannes an der Taxushecke. Sie stand mitten in der Thür. Rasch, wie sie diese aufgerissen, wollte sie in das Zimmer stürzen. Da sah sie mich. Ihr Schritt hemmte sich unwillkürlich, aber nur einen Augenblick. Was sie vorhatte, wozu ihr Inneres mächtig, unwillkürlich sie drängte, auch die Gegenwart des Fremden konnte sie nicht davon zurückhalten.

Sie stürzte in die Stube, und ging auf den Amtmann zu. Ihr vom Zorn geröthetes Gesicht bekam zugleich den Ausdruck eines zwar heftigen, aber doch noch mehr edlen Stolzes.

„Vater,“ sagte sie zu dem Amtmann, „ich habe Alles gehört. Ja, ich habe gehorcht“ – sie erhob ihr schönes Gesicht stolzer –; „Carl war bei mir, ich habe ihn zurückgehalten. Und ich weiß auch, wo er heute Nacht gewesen ist. Nun weißt Du Alles.“

Nun weißt Du Alles!

Der Amtmann schien in der That Alles zu wissen. Eine Blässe flog über sein Gesicht. Eine Verlegenheit machte seinen Blick ungewiß, freilich kaum eine Secunde lang. Er wußte sich augenblicklich zu beherrschen.

Aber seine Verwirrung kam mir doch so sonderbar vor. Eine bloße Verlegenheit des Vaters, des Beamten, der durch die Heftigkeit seines Kindes in seinem Amte compromittirt wurde, war es nicht. Es lag ein anderer, ein tieferer Grund vor.

Das junge Mädchen, nachdem sie die flüchtigen Worte zu dem Vater gesprochen hatte, wollte sich wieder entfernen. Da sah sie, wie der junge Schreiber weinte, Seine Thränen fielen nicht mehr langsam, sie fielen schneller, dichter auf das Papier.

Sie ging nicht zu der Thür; sie flog auf ihn zu und nahm seine Hand.

„Weine nicht, Carl!“

Dann flog sie zu ihrem Vater zurück.

„Vater, darf ich ihn mitnehmen? Er ist so krank, ich weiß es.“

Sie schien Alles von dem jungen Menschen zu wissen.

Der Amtmann runzelte wohl wieder die Stirn, aber er sagte doch, obwohl diesmal mit mehr Ernst als Wohlwollen:

„Carl, Du kannst gehen.“

„Ich danke Dir, Vater!“ rief das Mädchen.

Sie flog wieder zu dem jungen Manne.

„Komm, Carl!“

Sie ergriff seine Hand, und verließ mit ihm das Zimmer. Ihre Augen standen voll Thränen, während die des jungen Mannes sich trockneten.

Es war ein sonderbarer Zwischenfall gewesen. Dieser heftige muthige Stolz des schönen jungen Mädchens, dessen körperliche Entwicklung noch lange nicht die Jungfrau, noch vollkommen ein Kind

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