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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

No. 42. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Ein Kirchhofsgeheimniß.
Mitgetheilt vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Fortsetzung.)


Der Amtmann trat mit dem Schließer auf die Seite. Dort machte derselbe seine Meldung, leise, lange. Der Amtmann blieb unbeweglich. Keine Miene in seinem Gesichte zeigte, daß er etwas Anderes, als eine gewöhnliche dienstliche Anzeige, entgegen nehme. Auch der Schließer sprach mit großer Ruhe. Nur ein einziger unbewachter Seitenblick auf mich verrieth mir, daß er von mir sprach. Handelte es sich um mein nächtliches Abenteuer? Das schien mir gleich darauf das Benehmen des Amtmanns zu bestätigen.

Nach Beendigung seiner Unterredung mit dem Schließer trat er zu mir zurück. Er war ruhig und höflich wie vorher. Nur glitt ein leise forschender Blick wie unwillkürlich aus seinem Auge über mein Gesicht, und etwas kälter und zurückhaltender schien er mir doch geworden zu sein.

„Ich bedauere,“ sagte er zu mir, „Sie nicht in die Gefängnisse begleiten zu können. Ich erhalte in diesem Augenblicke eine Mittheilung, die mich abhält. Es ist mir übrigens sehr angenehm gewesen, einen so intelligenten und strebsamen jungen Beamten kennen gelernt zu haben.“

Da hatte ich zugleich meinen Abschied von ihm.

Ich dankte ihm für seine Freundlichkeit, drückte ihm, sein Compliment erwidernd, meine Bewunderung über Ordnung und Vortrefflichkeit seiner Einrichtung des Amtes aus, und schied von ihm. Er kehrte in seine Wohnung im Klostergebäude zurück. Ging er wirklich dahin, oder welches andere Ziel verfolgte er?

Mich führte der Schließer Martin Kraus zu den Gefängnissen. Ich war sehr neugierig, ob sich diese in der That nicht nach der Kirche, nach dem Kirchhofe, nach der Gegend meines nächtlichen Abenteuers hin befinden würden.

Sie lagen nicht nach dieser Seite, sie lagen, wie schon der Wirth mir gesagt hatte, in der völlig entgegengesetzten Richtung, nach der Stadtseite; die sämmtlichen Klostergebäude befanden sich zwischen ihnen und der Kirche mit dem Kirchhof. Jenes Klagen konnte also aus einem Gefängnisse nicht hervorgegangen sein, oder das Amt mußte mehrere Gefängnisse haben.

Der Schließer Kraus hatte nach der Entfernung des Amtmanns ganz die finstere Miene der vergangenen Nacht. Er sah nur nicht drohend aus. Dafür war er völlig schweigsam. Er führte mich, ohne ein Wort zu sagen, in das Gefangenhaus, in die einzelnen Gefangenzellen. Auf meine Fragen gab er nur die allernothdürftigste Auskunft.

Gefängnisse und Gefangene boten nichts Bemerkenswerthes dar, nur daß auch hier überall die größte Ordnung, Pünktlichkeit und Ruhe herrschte. Ein strenger, aber zugleich humaner Geist mußte auch hier walten.

Die Besichtigung war bald vorüber.

In den Zellen, in Gegenwart der Gefangenen hatte ich über Anderes mit dem Schließer nicht sprechen können. Auch jetzt mußte ich jede Frage über unser nächtliches Begegnen für überflüssig halten. Er stand zwar vor mir wie ein Untergeordneter, der seine Entlassung erwartet. Aber sein finsteres Gesicht sprach den festen Entschluß aus, mir auf keine Frage eine Antwort zu geben. Ich entließ ihn.

Und wie Vieles hätte ich ihn fragen mögen! Wie Vieles den Amtmann, der so plötzlich mich entlassen hatte! Wie Vieles die Leute in dem Städtchen, die aber nichts wußten, als daß es auf dem Kirchhofe spuke!

Aber daß ich hier ein Geheimniß zurücklassen müsse, wahrscheinlich ein furchtbares Geheimniß, um das vielleicht nur zwei Menschen wüßten, der finstere Gefangenwärter und der peinlich-ordentliche, gerechte, humane, aber doch auch kalte, gemessene Amtmann, das ferner aller Muthmaßung und Berechnung nach nur irgend ein gefangen gehaltenes Wesen betreffen könne, darüber war ich nicht in dem mindesten Zweifel mehr.

So reiste ich ab.




Sechs Jahre waren seitdem verflossen. Ich war nie wieder nach Z. gekommen. Ich hatte nie wieder etwas über mein dortiges Abenteuer gehört. Desto öfter hatte ich daran denken müssen.

Meine Mutter hatte auch nie wieder etwas von Nettchen Thalmann gehört. Ob sie noch oft an sie gedacht hatte, weiß ich nicht.

Ich war schon seit mehreren Jahren wohlbestallter Amtsassessor in der Nähe meiner Heimath.

Eines Tages erhielt ich ein mit „sehr eilig“ bezeichnetes, an mich persönlich gerichtetes Rescript aus dem Ministerium der Justiz und des Innern. Es war darin der Befehl für mich enthalten, mich Angesichts dieses nach Z. zu begeben, um an Stelle des plötzlich und schwer erkrankten dortigen Amtmanns die Direction des Amtes zu übernehmen. Der Postenlauf von der Residenz nach Z., hieß es ferner in dem Schreiben, sei ein langsamer; wahrscheinlich sei daher die gleichzeitig an das dasige Amt abgesandte Benachrichtigung von dem mir gemachten Auftrage dort bei meiner Ankunft noch nicht eingetroffen; ich habe dann gleichwohl sofort die Geschäfte zu übernehmen, und durch Vorzeigung dieses Rescriptes mich zu legitimiren.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 597. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_597.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)