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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Der mir ertheilte Auftrag war, bei meiner Jugend an natürlichem wie an dienstlichem Alter, eine große Auszeichnung. Sie beschäftigte gleichwohl meine Gedanken kaum so sehr, als das mit neuer Kraft und Lebendigkeit vor mich hintretende Geheimniß, das ich vor sechs Jahren in Z., in dem Amte zu Z., hatte zurücklassen müssen. Jetzt mußte ich den Schlüssel zu ihm finden.

Mit dieser Gewißheit reiste ich gleich nach Empfang des Ministerialrescripts ab. Ich war noch unverheirathet. Meine gute Mutter lebte nicht mehr. Ich hatte keinen einzigen schweren Abschied zu nehmen.

Es war an einem Sonntag Abend, als ich in Z. eintraf.

Ich konnte an demselben Tage in meine neuen Geschäfte nicht mehr eintreten. Es war schon spät, ich mußte auch fürchten, die Beamten nicht bei der Hand, nicht einmal in ihren Wohnungen zu finden. Und ich wollte überraschen, um jenes Geheimnisses willen, daher vor Allem die Gefängnisse, den Gefangenwärter, den Schließer Martin Kraus, wenn er noch am Leben und im Amte war. Deshalb gab ich mich auch an dem Abende in dem Wirthshause nicht kund, und ließ mich vor Niemandem sehen.

Ich war in dem nämlichen Gasthofe abgestiegen, der mich vor sechs Jahren aufgenommen hatte, denn es gab keinen andern in dem Städtchen. Es war ein neuer Wirth da, der mich nicht kannte.

Am folgenden Morgen, gleich nach acht Uhr, der Zeit des Beginnes der Bureaustunden, begab ich mich auf das Amt. Ich wollte zugleich sehen, ob der strenge Ordnungsgeist des Amtmanns auch während seiner Krankheit nachwirke. Er wirkte nach. Alle Beamten waren auf ihrem Platze.

Ich ließ mich zu dem ältesten Assessor führen, der bis zu der Uebernahme der Geschäfte durch mich einstweilen die Direktion des Amtes führen mußte. Der Diener, der mich führte, kannte mich nicht, auch der Assessor nicht; er hatte mich bei meiner früheren Anwesenheit nicht gesehen.

Der Assessor war eine aufgeblasene Null, eine Schreiberseele, wie man ihrer leider auch in dem Richterstande so viele findet. Als interimistischer Chef hatte er sich doppelt aufgeblasen. Er empfing mich hochmüthig in seinem Arbeitszimmer; er stand nicht auf, er sah kaum nach mir auf.

„Wer sind Sie? Was wollen Sie?“

Ich überreichte ihm schweigend mein Ministerialrescript.

Da flog er freilich schnell genug in die Höhe, und er war nicht blos mein gehorsamster, er war mein unterthäniger Diener, der nur unterthänigst fragte, was zu meinen Befehlen stehe.

„Ich bitte nur,“ erwiderte ich ihm, „daß Sie, nach Inhalt des Rescriptes, mir sofort die Geschäfte übergeben.“

„Zu Befehl. Womit befehlen der Herr Amtmann den Anfang zu machen? Mit den Cassen?“

„Ich bin kein Amtmann; ich bin Amtsassessor, wie Sie.“

„Gehorsamster – unterthänigster Diener. Also zuerst die Cassen, befehlen Sie?“

„Ich denke, zu ihnen gehen wir später, damit die Rendanten unterdeß ihre Abschlüsse machen können.“

„Sie könnten aber auch unterdeß Unrichtigkeiten, selbst Malversationen verdecken.“

„Ich halte die Menschen nicht eher für schlecht, als bis ich sie für schlecht erkannt habe.“

„Ah, ah, im Beamtenleben –!“

„Die Beamten sollten die Besten unter den Guten sein.“

„Freilich, freilich!“

„Aber wenn ich bitten darf, so machen wir den Anfang mit der Uebergabe der Gefängnisse.“

„Wie Sie befehlen.“

Er sandte den Diener, der mich zu ihm geführt hatte, zu dem Schließer.

„Rufe Er auf der Stelle den Schließer hierher,“ befahl er blos.

Einen Namen nannte er nicht. Ich erwartete fast klopfenden Herzens, ob ich Martin Kraus werde eintreten sehen. Ich erkundigte mich unterdeß nach dem Befinden des Amtmanns.

„Er ist sehr schwach,“ erwiderte mir der Amtsassessor. „Er hatte plötzlich eine Lungenlähmung bekommen. Sowohl der Arzt des Städtchens, wie ein herbeigeholter Arzt aus der benachbarten größeren Stadt haben ihn aufgegeben. Er kann höchstens noch drei Tage leben.“

„Hat er Familie?“ fragte ich.

„Nur eine Tochter. Er ist schon lange Wittwer.“

„In welchem Alter ist die Tochter?“

„Sie wird ungefähr zwanzig Jahre zählen.“

War es jenes schöne, heftige, leidenschaftliche Mädchen, das ich an der Taxushecke so traurig bei dem blassen Schreiber gesehen, das sich dann so heftig und doch so liebevoll zärtlich des kränklichen jungen Mannes angenommen hatte?

Der Schließer trat ein. Es war der alte Martin Kraus. Er war in den sechs Jahren nicht älter geworden, war noch eben so kräftig und rüstig, wie damals, als ich ihn zum ersten Male sah, und sah auch noch eben so finster, verschlossen und schweigsam aus. Aber als er mich erblickte und sofort erkannte, da schrak er plötzlich und heftig zusammen, und als der Assessor ihm dann erklärte, daß ich der neue Vorgesetzte des Amtes sei und jetzt gleich mein Amt antreten und zuerst die Gefängnisse mir übergeben lassen wolle, da sank der riesige, kräftige Mann ineinander, daß er sich kaum aufrecht halten konnte; er schien in einer Secunde um zehn Jahre älter geworden zu sein.

Was war das? Hier mußte ich zu meinem Geheimnisse kommen.

„Sogleich befehlen der Herr?“ konnte er kaum fragen.

„Ich wünsche es,“ sagte ich.

„Gewiß!“ rief befehlend der Assessor, der noch, indem er mir das Amt zu übergeben hatte, als erster Beamter befehlen konnte.

Martin Kraus mußte gehorchen. Er gehorchte; er führte uns, als ob er uns zum Richtplatze, zu seinem Richtplatze führen sollte. Auf dem Wege erholte er sich jedoch nach und nach, als wenn näheres Nachdenken ihm eine plötzliche Hoffnungslosigkeit genommen habe. Auch in den Gefängnissen waltete noch der Geist des Amtmanns; überall die frühere Ruhe und Ordnung. Von den Gefangenen, von denen keiner über ein halbes Jahr lang saß, hatte kein einziger eine Klage zu führen, weder über seine Untersuchung, noch über seine Behandlung in der Haft. Das Gefängnißgebäude war das frühere. Es lag für sich allein, von den übrigen Kloster- oder Amtsgebäuden getrennt, von einer hohen Mauer umgeben. Daß zwischen ihm und dem Kirchhofe sich die sämmtlichen anderen Gebäude des Amtes befanden, habe ich schon gesagt. Ich ließ mich in jeden Raum des nicht weitläufigen Hauses führen, immer an mein Geheimniß denkend. Ich fand nirgends etwas Verdächtiges, nirgends eine Spur, daß in einem der Räume jemals ein Mensch etwa in verborgener Gefangenschaft gehalten sei. Ich mußte den Schlüssel zu dem Geheimnisse anderswo suchen. Nur in der Nähe der Kirche und des Kirchhofes konnte er auch jetzt noch zu finden sein.

Leider konnte ich ihn dort nicht sogleich suchen; ich mußte mir die sämmtlichen übrigen Geschäfte des Amtes übergeben lassen, und das nahm den ganzen Tag weg.

Welche Vorbereitungen und Verdunkelungen konnte nicht unterdeß der Schließer Martin Kraus treffen, der auch den Schlüssel des Geheimnisses hatte! Hatte sich darauf seine plötzlich erwachte Hoffnung gebaut?

Außer dem Schließer fand ich bei meiner Einführung in das Amt noch zwei andere Bekannte wieder. Der Actuarius mit dem rothen Gesichte und den rothen Haaren schien seine Kanzlei mit eben so cholerischem Diensteifer zu überwachen, wie vor sechs Jahren. Und der so kränkliche Schreiber Karl Brunner, der Schützling der schonen Amtmannstochter, saß noch auf seinem alten Platze an dem Kanzleitische. Er war noch mehr in die Höhe geschossen; aber auch seine Brust war noch mehr eingefallen und sein hohles Gesicht bedeckte rund um die hektische Röthe auf der Spitze der Backenknochen eine furchtbare Blässe; sein Athem war kurz, beschwerlich; man glaubte zu hören, wie jeder Zug sich mühsam durch zerstörte Lungen hindurcharbeiten müsse. Und der arme Mensch mußte noch immer die kranke Brust über den Schreibtisch krümmen!

Er stand mit jenem Geheimnisse in Verbindung. Auch dieses sein Schicksal?

In sein Gesicht schoß wieder eine dunkle Rothe, als er mich erkannte; dann wurde es so leichenblaß, daß selbst jene verrätherischen rothen Flecken verschwanden. Aber weiter schreiben konnte er. Hatte der cholerische Eifer des Actuar ihn das seitdem gelehrt? Der rothe Mann sah es wenigstens mit zufriedenem Stolze, daß er weiter schrieb. –

Die Uebernahme der Geschäfte war beendet. Ich hatte mit Ungeduld das Ende abgewartet.

Seit sechs Jahren hatte mich der Gedanke nicht verlassen, daß in den Räumen des Amtes auf geheimnißvolle Weise eine gefangene

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 598. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_598.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)