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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

gab. Natürlich stürzte das durch die ungewohnte Last in Angst versetzte Thier in rasendem Lauf durch Dick und Dünn, bis es verendend zusammenbrach. Es geschah dies auf dem Steinbacher Revier im Moritzburger Forstbezirk, wo der Hirsch mit dem noch festgebundenen zerrissenen Leichnam des Unglücklichen gefunden ward. Doch entziehen wir uns dem gräßlichen Bild, und treten wir von Dresden aus unsere Wanderung an, um die bewaldete Gegend, die eine Hochebene ist, friedlich zu durchstreifen.

Schon auf halbem Wege, ein und eine halbe Stunde von der Residenz, nimmt uns eine schnurgerade, ehrwürdige alte Kastanienallee auf, der sich ungefähr drei Viertelstunden vor dem Schloß eine noch ehrwürdigere, prachtvolle Lindenallee anschließt, welche bis vor das Schloß führt. Da liegt die stattliche Moritzburg, umgeben von zwei Weihern, auf deren einem man eine kleine Insel mit einem von italienischen Pappeln umgebenen Pavillon – ein Anblick, wie die Illustration eines Stammbuches – liegen sieht. Beide Weiher sind nur durch einen Damm getrennt, auf dem eine kurze, zopfig verschnittene Kastanienallee geradezu in die mit verschnittenen Taxus- und anderen Bäumen verzierte Umgebung führt, von wo aus die breite Auffahrt nach dem höher gelegenen, charakteristisch mit Hirschgeweihen verzierten Schlosses beginnt. Am Anfang derselben blasen zwei vortrefflich in Stein ausgehauene lebensgroße Jäger im Roccococostüm, mit mächtigen Flügelhörnern versehen, ihr stummes „Hallali“. Auf beiden Seiten der Auffahrt stehen auf steinernen Geländern pausbackige, ebenfalls steinerne, mit Emblemen der Jagd und Fischerei bezeichnete Jungen. Auch die Terrasse des Schlosses ist rings herum von dergleichen Gestalten umgeben, unter denen sich wiederum auf den Ecken lebensgroße Jäger mit Hunden u. s. w. auszeichnen, besonders zwei, welche ihrem Costüm nach einer früheren, der Zeit des Mittelalters, angehören. Rechts und links gehen Freitreppen hinan, während die hintere Seite abermals eine breite Auffahrt bildet, die in den unmittelbar dahinter liegenden Schloßgarten mündet. Dieser führt uns in seinem Zopfstyl mit den sonderbar künstlich geformten Bäumen und Hecken so recht charakteristisch in jene Tage der Vergangenheit. Sechs kleine pavillonartige Häuschen sind am Fuße des Schlosses vertheilt.

Das Ganze nun umgibt der Thiergarten, und zwar ursprünglich der nicht bedeutend umfangreiche sogenannte alte Thiergarten, in dessen Mitte das „Hellhaus“ steht. Es ist dieses ein achteckiges, zweistöckiges, erhöht liegendes Gebäude, von dem aus acht Alleen den Thiergarten durchschneiden, welche dazu bestimmt waren, bei früheren Jagden wahrnehmen zu lassen, wo sich das Jagen hingewendet habe, indem auf jenem Hellhause nach der betreffenden Richtung eine Fahne ausgesteckt wurde, die man von den Alleen aus bequem beobachten konnte. Außerdem liegt östlich vom Schlosse die Fasanerie mit ihrem charakteristischen, in chinesischem Styl erbauten Schlößchen, an dessen vier Ecken lebensgroße, in Stein ausgehauene verendende Hirsche mit mächtigen natürlichen Geweihen liegen. In Verbindung mit diesem Schlößchen steht das sogenannte Garnhaus, ein ebenfalls in chinesischem Styl erbautes, aus lauter dünnen Latten zusammengefügtes, luftiges Gebäude, in welchem unter lebendigen Taxushecken und künstlichen Palmen Fontainen plätschern und buntfarbige Gold- und hellglänzende Silberfasanen nebst prächtig schillernden Pfauen umherwandeln, während das Proletariervolk der Sperlinge in den blechernen Blättern der Palmeninsel sein Wesen treibt. Dicht dahinter liegt der „Großteich“ von bedeutendem Umfange, versehen mit einem Leuchtthurm und einer Insel, auf der unter Pappeln und Trauerweiden ein Pavillon steht, welcher früher, wie jener auf dem Schloßteiche, bei Festlichkeiten zu fröhlichen Schäferstunden benutzt worden sein soll. Ein Seeschiff in verkleinertem Maßstabe, das ebenfalls früher unter Kanonendonner seine hohen Gäste auf dem Teiche umhergetragen hat, ist nicht mehr vorhanden, hat jedoch noch bis in die neuere Zeit existirt.

Zwischen dem Fasanen- und dem Hauptschlosse zieht sich ein breiter Canal hin, der die „weißen Hirschgärten“ durchschneidet, in denen sich bis in die jüngste Vergangenheit das sogenannte „Bläß-“ und weiße Edelwild befand – Varietäten, die leider in Moritzburg ausgestorben sind. Die verwaisten Räume werden jetzt nur von verwilderten Haideschnucken bewohnt, und doch haben gerade diese Gärten mit ihrem zopfigen und doch so respectablen Schmuck einen eigenthümlichen Reiz. Großartige, für Wasserkünste bestimmte Gruppen, Vasen, Statuen und breite Canäle bilden zu den mächtigen Eichen, Buchen, Fichten u. s. w. einen eigenen Contrast, sowie die dabei stehenden, aus glatt verschnittenen, nach oben zu die Höhe mächtiger Bäume erreichenden Fichtenhecken gebildeten kolossalen Buchstaben A. F. A. für die wunderbare Ausdauer unserer Vorfahren zeugen, die so etwas anlegen konnten, ohne hoffen zu können, ihre Schöpfung je in ganzer Vollendung zu sehen.

Dies ist so der eigentliche Complex von Moritzburg; es ist jedoch dem „alten Thiergarten“ noch eine bedeutende Waldung beigefügt worden, der sogenannte „Hinterwald“ und die „Oberecke“, so daß der ganze, ringsherum durch einen hölzernen Wildzaun vermachte Thiergarten nun gegen 4000 Acker umfaßt. An Wild enthält er Sauen, Hochwild und Damwild, nicht gerechnet die Rehe, welche durch den Zaun ein- und ausgehen.[1] Es steht daher zu erwarten, daß wir auf unserer Wanderung auch noch anderes Wild, als das vorzugsweise gesuchte, zu sehen bekommen, und wir werden unsere Unterhaltung nicht beeinträchtigen, wenn wir es nicht gänzlich unbeachtet lassen. Zuvörderst wenden wir uns wieder dem Hauptschlosse zu, in dessen Nähe wir nicht lange zu suchen haben werden, um auf das Gewünschte zu stoßen.

Wir gehen am Schloßteiche vorüber, dessen Damm eine Kastanienallee bildet. Die ehrwürdigen, alten Baume senken ihre Aeste tief hinunter, um mit Zweigen und Blättern das klare, kühle Wasser zu streifen, als zöge sie eine unbewußte Sehnsucht dahin. Säuselnd und flüsternd klingt’s im Schilf, das unter ihnen wächst, und setzt sich fort in den schwankenden, niedergebeugten Aesten der alten Kastanien, bis es in den hohen Wipfeln wie ein voller Accord dahin rauscht. Weiter hin, ein Stück hinter dem Schlosse, ersteigen wir einen sanften Anhang, dessen hügeliges Terrain stellenweise mit einzelnen mächtigen, silberbemoosten Steinblöcken oder mit Gruppen solcher bedeckt, so wie mit alten, zum Theil schon verwitterten Buchen bestanden ist. Wie ladet hier der kurze Rasen unter dem herbstlich gefärbten, goldenen Laubdache ein, sich darauf hinzustrecken und den bezaubernd schönen Anblick zu genießen, der sich nördlich vom Schlosse dem erstaunten Auge darbietet! Befanden wir uns eine kurze Strecke hinter uns noch unter Statuen, Mauern und Thürmen und unter Bäumen, die, durch Menschenhand in bestimmte Formen gebracht, kaum noch an die Natur erinnerten, so schweift jetzt das Auge über eine echte stille Waldlandschaft hin. Unmittelbar vor uns, unter dem Buchenhange, dehnt sich eine weite, hier und da durch eine einzelne mächtige Eiche oder Buche beschattete Waldwiese hin, hinter der ein weiter Wasserspiegel, der sogenannte „Mittelteich“, umschlossen von Nadelholzwald, sich ausbreitet. In herbstlich morgentlichem, ruhigem, silbernem Ton liegt das Ganze vor uns. Eben rührt sich kein Lüftchen, so daß die alten Buchen über uns wie träumerisch schweigen und nur das Klopfen eines Spechtes, gleichsam der Herzschlag dieser stillen und doch so beredten Zeugen eines liebenden Schöpfers, zu hören ist. Sichtbar sind in diesem Augenblicke von lebenden Wesen nur ein über dem schilfbekränzten Weiher kreisender Reiher und ein paar im Sonnenschein weithin leuchtende Möven, die über der spiegelnden Fläche kreischend umherkreuzen, um dann und wann niederzuschießen und dem Gewässer die scharf erspähte Beute zu entreißen.

Nicht satt sieht man sich an dieser melancholischen friedlichen, stillen, feierlichen Waldesnatur. Immer und immer wieder schweifen die Blicke darüber hin, bis sie dort auf dem Bruch an einem Gegenstande haften bleiben, der sich eben bewegt und den man, wenn dies nicht der Fall wäre, wohl für einen aus dem hohes Grase hervorragenden Ast halten könnte. Aufmerksam gemacht, entdeckt man aber, daß es das Geweih eines Damhirsches ist. Jetzt sieht man auch noch mehrere hervorragen, und genau hinüberblickend gewahrt man die Köpfe eines ganzen Trupps. So haben wir denn vor uns, was wir suchten, wenn auch etwas fern und liegend.

  1. An dieser Stelle erlaube mir der Leser eine kleine Unterbrechung zur Bemerkung und Berichtigung eines Irrthumes, der, wie er früher selbst unter den bedeutendsten Männern der Wissenschaft allgemein gewesen, neulich von mir ausgesprochen worden. Derselbe ist aber durch die neuesten Untersuchungen, von denen ich mich aus den bezüglichen Schriften seitdem überzeugt habe, aufgeklärt und beseitigt worden. Er betrifft nämlich den Gegenstand der Rehbrunft, von der ich im vorigen Artikel gesagt hatte: „im August sei die falsche Brunft.“ Dem ist nicht so, vielmehr geht in diesem Monate die wirkliche Begattung vor sich und es bietet daher die Gattung Reh den auffallenden Umstand dar, ungefähr 42 Wochen tragend zu gehen und zwar so, daß sich bis Weihnachten nichts oder doch nur gegen Ende dieser Zeit die Entwickelung des Embryo zeigt und dann erst einen regelmäßigen Fortgang nimmt. Wir geben die Notiz, um nicht den Vorwurf zu verdienen, wissentlich einen Irrthum aus bloßem Indifferentismus unberichtigt gelassen zu haben.
    G. H.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 602. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_602.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)