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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Schreiten wir deshalb darauf zu, um die Thiere wenigstens flüchtig und flüchtend zu betrachten; denn so leicht sie am Fütterungsplatze oder auch wohl im Stangenholz an sich herankommen lassen, – auf freier Wiese halten sie ungern.[1]

Und richtig, kaum haben wir uns bis auf 3–400 Schritt genähert, so erhebt sich der ganze Trupp, Eines nach dem Andern, Groß, Klein, Weiße und Bunte. Alle wenden uns die Köpfe zu, uns neugierig anäugend. Jetzt wendet ein altes Thier um und schreitet langsam vorwärts; dann geht es in einen unbeholfenen, bocksteif aussehenden Galopp über und alle Uebrigen folgen in dieser drollig aussehenden Gangart nach, die Blumen[2] dazu hoch emporhebend, bis sie sich in’s gewöhnliche Trollen finden. In einiger Entfernung machen sie sämmtlich wieder Halt, um nochmals zurückzuäugen, und verschwinden dann, ruhig weiterziehend, in dem gegenüberliegenden Walde.

Nachdem wir wenigstens einen flüchtigen Gesammteindruck der gesuchten Wildgattung gewonnen, lassen wir uns verleiten, ihnen nachzufolgen, um sie möglicher Weise nochmals und besser zu Gesicht zu bekommen, oder, wenn nicht dieselben, doch andere. Schon ehe wir zum Saume des über die Wiese hinliegenden Waldes gelangen, springen kurz vor uns im Grase mit erschrecktem, grunzendem Tone mehrere Sauen auf, die – es sind unter ihnen zwei Bachen mit einer Schaar von Frischlingen – eilig die Flucht ergreifen. Ein Keiler nur bleibt in kurzer Entfernung stehen und kommt mit aufgehobenem Gebräch[3] schnaubend ein paar Schritte zurück, eilt aber dann ebenfalls mit grunzend auffahrendem Tone dem Rudel nach. In der Hoffnung, auch dieses Wild weniger flüchtig betrachten zu dürfen, setzen wir unseren Waldgang fort. Meist ist es Kiefernwald, der uns jetzt aufnimmt, obgleich gerade dieser Theil des Thiergartens, „der Hinterwald“, manche echt waldige Partie von Fichten, hier und da eine alte, verwetterte Eiche oder Buche aus alter, guter Zeit bergend, in sich schließt.

Von hohem Reiz sind aber die mitten im Walde liegenden Brüche, auf denen öfter einsam eine oder mehrere viele hundert Jahr alte Eichen stehen und mit ihren zackigen, theilweise vom Blitz zerschlagenen Wipfeln in die Luft hineinstarren. Kreischend tummeln sich darin die Nußheher, die dann mit welligem Fluge dem die Wiese begrenzenden Nadelwalde zufliegen, um hier emsig die im Kropfe aufgespeicherten Eicheln zu verstecken, und so unwillkürlich die Beförderer der Laubholzculturen zu werden. Auch Sauen erblickt man, wie sie ruhig, da sie von uns, die wir still am Waldsaum hingehen, keinen Wind bekommen, die Eicheln unter mächtigen Bäumen aufsuchen. Stören wir sie nicht in ihrer Lieblingsäßung und benutzen wir den Vormittag, um den Hinterwald zu durchstreifen. Wieder kommen wir an stille Teiche, die „Alten Teiche“ genannt, und sehen wohl hier und da ein Stück Wild oder auch einen Edelhirsch hinziehen, aber mit der zunehmenden Tageswärme sucht Alles mehr die schattigen Dickichte auf. Stiller wird’s und einförmiger; kein Vogel, kein sonstiger Ton läßt sich hören, über der blühenden Haide sieht man die Luft zittern, und die Sommerfäden ziehen über die Blößen hin; der Mittag naht heran.

Auch wir suchen einen zum Haltmachen geeigneten Ort, doch nach guter Waidmannsart mit Fourage in der Jagdtasche versehen, nicht im Wirthshause, sondern im duftigen, schattigen Walde. Um unsern nächsten Zweck zu erreichen, gehen wir noch ein Weilchen, und ziehen uns am Hinterwalde zurück. So kommen wir wieder an den Mittelteich, aber an sein anderes Ende. Hier erlauben wir uns, in einer Thorwärterwohnung uns durch einen frischen Trank Bier zu erquicken, worauf wir gestärkt weiter ziehen, und zwar den Teichdamm entlang, der noch vor kurzer Zeit einen der malerischsten Punkte der Umgegend von Moritzburg bildete. An tausend Jahr alte, kerngesunde Eichen standen hier, wundervoll gruppirt, als Baumrecken der Vorzeit – sie verfielen der Neuzeit als Opfer, weil in der Forstverwaltung das Princip aufgestellt wurde: auf Dämmen keinen Baum zu dulden. Kein Mächtiger that Einspruch diese lebendigen Denkmäler grauer Vergangenheit zu schützen. – Also mit einem Seufzer schreiten wir auf kahlem Damme dahin und schlagen uns, wie jener grollende Indianer „seitwärts in die Büsche.“ Im Schatten untermischten Holzes von Kiefern und Fichten, prächtigen Buchen und Eichen erreichen wir das schon Eingangs erwähnte „Hellhaus“, um vor der Hand an diesem Platze zu rasten.

Kaum kann man sich ein reizenderes Plätzchen zum Ruhen wählen, als dieses. Vor der heißen Mittagssonne geschützt durch den Schatten des auf einer Erhöhung liegenden Gebäudes, auf kurzem, von wildem Thymian duftendem Rasen hingestreckt zu liegen, umgeben von prächtigen feinnadeligen Weimuthskiefern, alten bemoosten Lärchbäumen, Fichten und Buchen, die theils die acht Alleen bilden, theils die unmittelbare Umgebung dieses stillen Asyls sind, und Alles dies an einem schönen Herbsttage zu genießen, ist von unnennbarem Reize. Stundenlang möchte man sich dem Wohlgefühle überlassen und den dahineilenden, silberscheinigen Wolken zuschauen, die bald in dieser, bald in jener phantastischen Gestalt am blauen Aether dahinziehen, immer und immer die Formen wechselnd, bis sie zergehen und endlich dem Auge ganz verschwinden. Neue kommen, zerrinnen und verschwinden, immer dasselbe Spiel – und doch immer anziehend, nimmer ermüdend! Dazu löst der linde Wind die aromatischen Wohlgerüche des Thymians und des Nadelholzes und streift weiter durch die feinen, langen Nadeln der Weimuthskiefern und all’ die nadel- und blätterreichen Wipfel des Waldes dahin, daß es wie ein sanftes Schlummerlied klingt. Träumerisch schließt man die Lider, die Eindrücke des Tages am inneren Auge nochmals vorüberziehen zu lassen, bis man dabei entschlummert und die Träume in phantasiereicher Geschäftigkeit zauberische Bilder schaffen. Da eilt man flügelbegabt mit den Wolken über die Wipfel des Waldes dahin, sieht liebliche Wildgruppen unter sich oder läßt sich wohl gar zu den nun vollkommen Zutraulichen hernieder, unter ihnen zu wandeln und mit ihnen verständlich zu verkehren. Ein ganzes Leben lebt man mit ihnen, zieht mit in thaufrischen Gräsern umher, über blühende Haide hinaus auf Wiesen und an die Weiher. Jahre sieht man so an sich vorüberstreichen in freier Ungebundenheit und doch brauchte die Phantasie der Seele vielleicht nur Minuten, ja Secunden dazu, all’ diese glücklichen Bilder herbeizuzaubern. Hier erwacht man aus einem schönen Traume wenigstens zu einer schönen Wirklichkeit und gestärkten, heitern Sinnes gibt man sich wieder froh dem Vollgenusse der freien Natur hin.

Verweilen wir noch etwas auf unserem Ruhepunkte und sehen bald da, bald dort über eine der Alleen ein Stück Hochwild, Damwild oder einen borstigen Keiler ziehen, die sich nun nach und nach dem nahen Fütterungsplatze zuwenden und bis dahin entweder in den umliegenden Dickichten und Stangenhölzern verweilen, oder auf der freiliegenden Wiese im hohen Grase liegen oder sich dort äßen. Dies ist auch der Ort, wo wir unsere Burschen, die Damhirsche nebst Familie, näher in Augenschein nehmen werden.

Auf einem von Nadeln glatten Wege gehen wir, oft ausgleitend, die östliche Allee hinab und kommen auf einen freien Bruch, auf dem am Rande des Waldes bereits allerhand Gewild erscheint, um der baldigen Fütterung, die hier auf einer Blöße geschieht, zu harren.

Inzwischen lassen wir uns auf die von rohen Stangen massiv gezimmerte Bank nieder. Die Zeit kann uns nicht lang werden; denn da sieht man den borstigen, dunkeln Kopf eines Keilers aus dem nahen Dickicht gucken, dort eine Bache, hinter sich her die Frischlinge, über die Wiese traben. Auch läßt sich in gemessener Entfernung schon ein Edelhirsch sehen, während das Damwild schon in ganzen Trupps vorhanden ist.

In nicht zu großer Ferne hört man jetzt auf hartem Wege einen Wagen heranfahren und wie ein Zauberton wirkt dieses sonst so gleichgültige Geräusch auf unsere lebendige Umgebung. Wohlbehäbig grunzend kommen auf einmal aus allen Ecken und Enden aus den nahen Dickichten Rudel von Sauen hervor. Groß und Klein, schnaubend und quiekend ziehen sie allesammt eine kleine Strecke dem gehörten Wagen entgegen, der bald, von den Thorwärtern bespannt und gezogen, sichtbar wird. Angekommen auf dem Platze, umgeben die Sauen die Equipage, auf der sich das Futter für sie befindet, so daß die Leute sich mit den Füßen vor ihrer Zudringlichkeit wehren müssen. Bald ist das aus Kartoffeln, Haidekorn, Erbsen, Eicheln etc. bestehende Futter aus den Säcken geschüttet und in langen Streifen ausgestreut. Nun geht es mit geschäftiger Eile an das Heben[4] desselben. Zuerst nehmen sie die Körner und Eicheln auf; Kartoffeln bleiben bis zuletzt liegen. Dabei streiten sie sich um ein einzelnes Korn, das sie bequem wo anders heben könnten, und nicht selten kommt es vor, daß sie sich mit ihren scharfen Gewehren[5] klaffende Wunden schlagen, die zuweilen tödtlich sind.

  1. So zahm das Damwild überhaupt im eingehegten Raume ist, so scheu und schlau benimmt es sich, wenn es im Freien vorkommt.
  2. Blume: Schwanz.
  3. Gebräch: Schnauze.
  4. Heben: aufsuchen, fressen.
  5. Gewehre: Eckzähne.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 603. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_603.jpg&oldid=- (Version vom 12.10.2020)