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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Wir erreichten das Ende des Ganges. Links von uns befand sich eine eiserne Thür. Wir waren völlig schweigend gegangen. Ich horchte eine Weile an der Thür. Ich hörte nichts. Doch etwas hörte ich. Das Klopfen meines Herzens.

Ich stand, nicht mehr vor der Auflösung des Räthsels, aber vor der Entscheidung eines entsetzlichen Schicksals, die so unendlich viel neues Elend, neuen Jammer nach sich ziehen sollte.

Daß ich mit dem riesigen, zum Aeußersten entschlossenen, vor einem Verbrechen, auch dem schwersten, nicht zurückbebenden Menschen mich allein befand, hier, tief unter der Erde, allein, ohne daß in der Welt ein dritter Mensch davon wußte, allein in einem verborgenen Winkel, dessen Existenz nur er und der vielleicht unterdeß schon verstorbene Amtmann kannte – ich dachte in diesem Augenblicke weder an alle diese Umstände, noch an die gefahrvolle Lage, in die sie mich versetzten.

Martin Kraus stand unbeweglich mit seinem unbeweglichen Gesichte neben mir.

„Schließt die Thür auf.“

Er schloß sie auf.

Wir traten in einen großen Raum. Es war ein neuer, weiter Keller. Eine Menge kleiner Pfeiler trugen niedrige Gewölbe. Alles war von jenem dunkelgrauen Stein aufgemauert. Ich horchte mit angehaltenem Athem hinein. Ich hörte nichts, nicht das leiseste Geräusch. Nur eine kalte, feuchte, dumpfe Luft wehte mir entgegen.

„Schließer, folgt mir.“

Wir schritten tiefer in den Raum hinein. Es blieb still um uns her, todtenstill. Aber der Raum war auch völlig leer. Die nackten grauen Pfeiler, die nackten grauen Mauern, das war Alles, was meine Augen erblickten. Ich durchschritt ihn in allen Richtungen, ich sah nichts weiter.

Ein menschliches Wesen war hier nicht; auch keine Spur, daß jemals ein Mensch hier gelebt habe. Selbst die Luft verrieth es in dem freilich ungeheuer weiten, dumpfen und feuchten Keller nicht.

Ich trat vor den Schließer Martin Kraus.

„Wo habt Ihr den Gefangenen gelassen, der bis heute sich noch hier befand?“

„Hier hat sich kein Gefangener befunden.“

„Brunner hieß er.“

„Ein Gefangener Brunner ist vor zwanzig Jahren und noch länger oben in den Gefängnissen gestorben.“

„Mensch, der Herr Amtmann hat mir Alles entdeckt. Gebt den Gefangenen heraus.“

„Wenn der Herr Amtmann Ihnen etwas gesagt hat, so hat er wohl schon in der Verwirrung des Todes geredet.“

Der Mensch blieb eisern fest und ruhig. Jedes fernere Wort an ihn blieb vergeblich. Weitere Räume, in denen der Gefangene hätte verborgen sein können, gab es dort nicht mehr.

Martin Kraus hatte ihn also entweder in einen andern der Verstecke gebracht, deren die alten Klostergebäude so viele darbieten mußten, oder er hatte schon jenes entsetzliche Verbrechen begangen, das der Amtmann befürchtet hatte. In beiden Fällen konnte ich in den unterirdischen Kellerräumen, zumal in der Nacht und allein, nichts mehr machen. Und draußen?

Ich verließ mit ihm die Keller. Wir gelangten wieder an die Oberfläche der Erde, auf den Hof.

Und jetzt?

Auf dem Hofe gingen Menschen hin und her, mit Laternen, ohne Laternen.

„So eben ist der Amtmann gestorben,“ theilten sie uns mit, als sie uns gewahrten.

Martin Kraus athmete an meiner Seite tief auf. Dann war er auf einmal von meiner Seite verschwunden. Ich sah mich in der Dunkelheit vergebens nach ihm um. Warum hatte er mich so plötzlich verlassen? Wohin war er gegangen?

Ich konnte es mir nicht beantworten. –

Ich war den ganzen Tag in einer langweiligen und desto mehr ermüdenden Thätigkeit gewesen. Mein Gemüth war so vielfach, oft so heftig angegriffen, zuletzt noch durch diese plötzliche Todesnachricht. Ich fühlte mich ermüdet, ermattet. Ich wollte nachsinnen, was zu thun sei. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Alle meine Kopfnerven schmerzten mich. Ich fühlte nur, daß ich nicht mehr nachdenken könne, nicht mehr nachdenken dürfe.

Ich verließ den Amtshof. Ich wollte zu meinem Gasthofe zurückkehren. Mein Weg führte mich hinter der alten Klosterkirche her. Jenseit der Kirche stand ich an dem Eingange zu dem alten Kirchhofe.

Auf einmal zog es mich unwillkürlich auf den dunkeln, stillen Friedhof. Es war mir, als müsse ich zwischen den einsamen, verlassenen und verfallenen Gräbern etwas finden, die Ruhe, deren mein schmerzhaft aufgeregtes Nervensystem so sehr bedurfte; vielleicht etwas Anderes. Ich mußte hin.

Ich sollte etwas Anderes finden.

Ich trat zwischen die Gräber. Ich ging weiter zwischen ihnen, zwischen ihnen und den Sträuchern und den Dornen und Brombeeren. Immer weiter. Hinter mir schlug die Uhr auf dem Klosterthurme Mitternacht.

Als der Ton des letzten Schlages verklungen war, glaubte ich, hinten am Ende des Kirchhofes ein Geräusch zu vernehmen. Ich horchte. Ich hörte etwas sich bewegen. Ich ging darauf zu, leise, langsam. Eine furchtbare Ahnung ergriff mich.

Das Geräusch dauerte fort. Es arbeitete Jemand an und in der Erde. Er arbeitete emsig, eilig, im Dunkeln. Er unterbrach die Arbeit nicht; er hatte mich nicht gewahrt. Auf einmal stand ich bei ihm.

Der Schließer Martin Kraus füllte ein Grab, vielleicht ein altes, längst verfallenes, aber zu einer neuen Bestimmung. Er warf die letzten Steine, die letzte Erde hinauf. Rasen zur Bedeckung des Ganzen lag neben ihm.

„Martin Kraus, wen habt Ihr da begraben?“

Da war er erst meiner gewahr geworden. Er erschrak wieder nicht; aber er sah mich mit einem wilden Blicke an.

„Herr,“ sagte er, „Sie können das Grab öffnen lassen. Sie werden einen nackten Leichnam darin finden, den kein Mensch auf der Welt kennt. Und weiter werden Sie nichts erfahren.“

Ein Schuß fiel neben mir. Der Schließer Martin Kraus sank mit zerschmettertem Gehirn auf das Grab. Er war auf Alles vorbereitet gewesen.

Welch’ ein treuer Mensch! Welch’ ein Beamtenthum! –

Ich ließ den Leichnam ruhen und ließ auch die dunkeln Verbrechen ruhen, die hier begangen waren. Kein Mensch war mehr da, den die irdische Strafe erreichen konnte. Das Andenken des Gemordeten war längst aus der Menschen Gedächtnisse verschwunden.

Sein Sohn hatte nur noch wenige Monate zu leben. Er starb in der That noch vor dem Winter. Er hatte geahnt, aber er hatte geschwiegen. Auch er in Treue und Liebe.

Rosa, die Tochter des Amtmanns, hat nie erfahren, was ihr Vater verbrochen hatte. Sie wurde meine glückliche Gattin. Vor wenigen Jahren ist sie gestorben.

Da erst theilte ich meinen Söhnen die Geschichte ihres Großvaters mit, zu ihrer Warnung auf den Beamtenweg, den auch sie eingeschlagen hatten.




Eine deutsche Prinzessin.[1]

Einer unsrer gewiegtesten und conservativsten Diplomaten streitet in vollem Ernst und mit großer Entschiedenheit schon deshalb gegen Aufhebung aller deutschen Kleinstaaten, weil dadurch leicht Mangel an ebenbürtigen Prinzessinnen eintreten und mancher Thron ohne Landesmutter bleiben könnte. Er schildert mit lebhaften Farben die Verlegenheit heirathslustiger Fürsten, die dann umsonst nach einer ihm an Rang gleichstehenden Gemahlin suchen würden. Und in der That, nach welchem Throne Europa’s wir auch schauen mögen, überall erblicken wir auf ihm oder ihm nahe deutsche Fürstentöchter.

  1. Obwohl wir bereits in einer frühern Nummer eine Skizze über die Herzogin von Orleans mittheilten, so glauben wir doch durch unsere heutige, die mehr biographischer Natur ist, und verschiedene neue Thatsachen bringt, unsern Lesern eine willkommene Gabe zu bieten.
    Die Redaction.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 623. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_623.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)