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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Ich erinnerte mich, daß ich ja mit den beiden eisernen Ketten fest auf dem Wagen befestigt war, daß ich also selbst in dem Falle, wenn ich das Bewußtsein verlöse, gar nicht fallen könnte. Der Gedanke beruhigte mich einigermaßen und mit mehr Ruhe sah ich der zweiten, ebenso steilen Stelle an der Längenwand entgegen.

Wieder blickte ich abwärts. Das ganze Thal lag in tiefem Schatten. Ich unterschied gar nichts. Die gegenüberliegende Wand war in ihrer oberen Hälfte von der Sonne, welche gerade über dem Rathhausberge emporstieg, hell beleuchtet. Auch die Matten- und Sennhüttenregion lag bereits unter mir. Ich befand mich in der baumlosen Region; einzelne verkümmerte Tannen und sibirische Cedern rankten sich drüben noch an den nackten Gneisfelsen empor. Ich mußte bereits fünftausend Fuß über der Meeresfläche sein. Aber immer schienen mir die Felshörner der Hirschkahrwand noch an Höhe zuzunehmen. Plötzlich fühlte ich einen Ruck. Der Wagen stand wieder ganz gerade; ich war also an der Längenwand, an der zweiten steilen Stelle. Vorsichtigerweise schloß ich die Augen; ich fühlte nur, daß ich mit großer Schnelligkeit meinen Flug aufwärts fortsetzte. Diesmal ergriff der Schwindel mich nicht. Nach einigen Secunden schlug ich die Augen auf; noch stand ich steil an der Wand und sah auf die mir gegenüberliegenden, schneegefleckten Felshörner. Sie lagen mit mir in einer Linie. Ich mußte die Höhe der Hirschkahrwand erreicht haben. Noch einige Momente und ich war über derselben; aber plötzlich sank die Wand, die früher immer so riesengroß und so gespensterhaft gewachsen war, mit den Felshörnern, mit den Matten und den Sennhütten zugleich in den Abgrund.

Zum zweiten Male ergriff mich der Schwindel. Ich sah nichts mehr und schloß wiederum die Augen. Der Wagen senkte sich mehrmals. Neben mir hörte ich das Brausen eines Wasserfalles, ich hörte das Geschrei eines Geiers, welcher mir an den Ohren vorüberflog; dann schlug ein regelmäßiges, tempoartiges Geräusch an mein Ohr. Das konnte nickts Anderes sein, als das Geräusch des großen Wasserrades, welches meinen Wagen durch die Luft führte. Ich öffnete die Augen und blickte in die Höhe. Ich lag auf dem Rücken und sah ein fortwährendes Blinken in der Luft. Es waren die von dem Rade umhergeschleuderten Wasser. Ich war also oben. Noch wenige Secunden, dann erblickte ich das große Rad gerade über mir. Noch einen Moment, und mein Wagen rollte aufwärts in das Maschinenhaus. Die Fahrt hatte zwanzig Minuten gedauert.

Ein Bergknappe löste die Ketten, welche mich an das Wagenbret befestigten. Ich sprang auf; meine Füße berührten wieder festen Boden. Ich stand auf dem Rathhausberge, 6078 Fuß über dem Meere. Welche Ueberraschung hatte ich, als ich aus dem Hause auf das Plateau des Berges trat! Vor den Augen meiner Seele stand noch lebendig das Landschaftsbild, was ich unten gesehen hatte, bevor ich mich auf den Wagen legte, ein stilles, grünes Alpenthal, von hohen, mit dunkeln Waldungen bedeckten Wänden eingerahmt, der Thalboden, grüne, duftige Matten, mit weißen Häusern übersäet, von den klaren, silberhellen Wellen der Ache durchrieselt, im Hintergrunde einige Schneespitzen und Schneefelder über die braunen Felswände hineinblickend. Jetzt stand ich plötzlich mitten in der baumleeren Alpenregion. In hügeliger Form dehnte sich das Plateau des Berges rund um mich aus. Die Sträucher, die Bäume waren verschwunden. Nicht eine sibirische Ceder wuchs auf diesem hügeligen, mit einem matten Grün bedeckten Boden. Bergschmieden, Bergstuben, Erzkammern und ein großes Pochwerk standen mit ihren grauen, von Ruß und Rauch geschwärzten Mauern rings umher. Das Geräusch der Feueressen, des Blasebalgs und der Hämmer erfüllte die Luft und geschäftige Bergknappen gingen hin und her. Gerade vor mir lag ein wüster Platz; er sah aus, wie eine Brandstätte. Es war die Stelle, wo früher der Floriansbau stand. Zwei Lawinen waren zu gleicher Zeit vom Gipfel des Kreuzkogl herabgestürzt und hatten den ganzen Bau nebst den darin beschäftigten Knappen in die Tiefe geschleudert, aus der ich so eben auf meinem luftigen Wagen in die Höhe gestiegen war.

Rings um das Plateau des Berges, ganz in meiner Nähe, strecken die Schneeriesen ihre weißen Häupter in die Höhe, rechts über ihnen allen erhob sich die braune Granitwand des Kreuzkogl. Ein steil ansteigendes Schneefeld führte auf seinen Rücken hinauf. Seinen schneegefleckten Kopf sah ich nicht, weil ich gerade unter ihm stand und der vorspringende Felsrücken ihn verdeckte. Einige hundert Fuß über mir an der braunen Felswand erblickte ich den Christophsbau, von dem ein sogenannter Schneekragen zu dem höchsten Stolln, zu dem Christophsstolln führt. Dort hinauf ging mein Weg; denn vermittelst dieses Stollns mußte ich den ganzen Gipfel des Kreuzkogl durchschneiden, um auf seine andere Seite zu kommen. Der Eingang des Stollns liegt 6544 Fuß über dem Meere.

In einigen Minuten war ich oben. Ein Bergknappe nahm mich in Empfang, zog mir einen Bergmannskittel an und setzte mich auf einen niedrigen, vierräderigen Wagen. Ein Anderer gab mir eine aus drei Bretern bestehende Holzlaterne in die Hand, in deren vorderer Oeffnung ein brennendes Talglicht steckte, ein Knappe spannte sich vor den Wagen, zwei schoben, und nun ging’s in den dunkeln Stolln hinein. Nach wenigen Augenblicken umgab mich eine tiefe Dunkelheit. Das Licht meiner Laterne warf im Vorbeifahren schwache Streiflichter über die schwarzen Wände zu beiden Seiten und auf den den Wagen ziehenden Knappen. Ich hörte nichts mehr, als das Knirschen der Räder auf ihren Holzbahnen und die Tritte der im Trabe laufenden Bergleute. Die Straße war zuweilen recht eng und niedrig. Ich mußte mich oft ganz auf meinem Wagen zusammenkauern, die Arme eng anziehen und den Kopf so tief wie möglich hinunterneigen, um nicht an der Decke und an den Wänden anzustoßen. Dann hörte ich das Rieseln der Wasser. Es waren die Bergbäche, welche den Schneefeldern über meinem Kopfe entströmten und welche im Innern des Berges durch Schichten und Risse sich einen Weg bahnten. Jetzt ging der Wagen in einem etwas gemäßigteren Tempo vorwärts. Ich fühlte, der Stolln ging langsam hinan. Nun passirten wir ein eisernes Thor. Dann ertönten einige dumpfe Schläge und ein Rollen, wie entfernter Kanonendonner. Der ganze Berg schien zu beben und zu zittern. Ein fast erstickender Pulverrauch drang in meine Nase. In einem andern Stolln wurde gesprengt und die Pulverdämpfe drangen durch die Bergadern in den Stolln, wo ich fuhr. Ich hielt mir das Taschentuch vor Mund und Nase, um nicht diesen erstickenden Dampf einzuathmen. Der Wagen rollte jetzt wieder schneller vorwärts, die Luft wurde immer drückender und der Aufenthalt in dem engen, niedrigen Stolln höchst unangenehm.

„Sind wir denn noch nicht bald aus diesem Höllenloche heraus?“ rief ich dem ziehenden Knappen zu.

„Nein, Herr,“ war die Antwort, „noch eine halbe Stunde.“

„Wie lange fahren wir denn schon?“

„Auch eine halbe Stunde. Bei dem eisernen Thore war die Hälfte des Weges.“

Das war eine Aussicht! Noch eine halbe Stunde in dieser miserabeln Stellung! Ich war oft gezwungen, mich wie eine Schnecke in ihrem Hause zusammenzuziehen, oder ganz auf den Boden des Wagens hinabzurutschen, um nicht mit dem Kopf oder mit den Armen an die Wände anzustoßen. Fast war mir die Fahrt, wie ich auf meinem Wagen durch die Luft sauste, angenehmer gewesen. Plötzlich hörte ich gerade über meinem Kopfe einige tempoartige Schläge, und jedem Schlag folgte ein dumpfes Donnern, welches in der Ferne zu verhallen schien.

„Was ist denn das wieder?“ rief ich.

„Eine Lawine, Herr, die oben vom Kreuzkogl auf das Schneefeld fällt. Sie geht uns nichts an.“

Der Wagen rollte unaufhaltsam weiter. Nun erblickte ich in weiter, weiter Ferne vor mir einen hellen Punkt. Er leuchtete wie ein Stern. Wir fuhren gerade auf diesen leuchtenden Punkt zu. Immer wurde er größer, immer heller und klarer, ein Lichtglanz schien von ihm auszugehn, und sich durch den schwarzen Stolln zu verbreiten. Das Licht, das meine Laterne ausstrahlte, wurde immer schwächer und schwächer, während der Stern an Farbe und Glanz zunahm, je näher wir kamen. Ich konnte mir selbst sagen, was es war. Der Stern war das jenseitige Stollnmundloch. Sein Leuchten[WS 1] war das Leuchten des in der Augustsonne glänzenden Sommermorgens. Jetzt konnte ich deutlich die Oeffnung unterscheiden. Noch einige Minuten, und Ströme von Sonnenlicht und Alpenluft drangen in den Stolln. Mein Licht erlosch. Der Wagen rollte hinaus. Was sah ich?

Ein Hochgebirgsbild, nein, ein neues Zauberbild der Wunderfahrt auf und durch den Rathhausberg! In Morgenroth gekleidet, lag das ganze Felsenamphitheater des Naßfeldes mit seinen glänzenden Schneefeldern und seinen funkelnden Gletschern vor mir. Zu meinen Füßen sah ich einen duftigen, grünen Rasenteppich, mit Tausenden rothblühender Alpenrosen geschmückt, ausgebreitet.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Leuten
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 630. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_630.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)