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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

No. 45. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Rath Braunstein und Familie.

Ein Lebensbild von Ernst Fritze.


I.

In einer der gesegneten Fluren Deutschlands, welche Anmuth mit Nutzbarkeit vereinen, finden wir eine hübsch gebaute, von thätigen und muntern Leuten bewohnte Stadt, die wir Blauberg taufen wollen, um sie nicht ganz namenlos in unserer Erzählung agiren zu lassen. Die ganze weite Landschaft um diese Stadt trägt den eigenthümlich idyllischen Charakter derjenigen Berggegenden, welche nur weiche, saftig grüne Wiesenmatten und wellenförmige, waldbewachsene Höhen in schönster Abwechselung aufweisen. Eine gewisse Poesie umwogte die Stadt mit ihren allerliebsten Umgebungen und auf ihren Straßen ruhte der Hauch des Friedens. Harmloser Sinn zeichnete die unteren Schichten der Bevölkerung vortheilhaft aus, aber in den Coterien der höheren Stände war es, wie überall in der Welt, wo Militair, Beamte, Adel und reicher Bürgerstand zusammentreten, um sich zu amüsiren.

Es gab in Blauberg ein Appellations- und ein Kreisgericht; es gab dort reitende und nichtreitende Officiere; es gab arme und dabei hochgestellte Edelleute; es gab Regierungsbeamte und pensionirte Militairpersonen; dann aber gab es auch noch reiche Kaufleute, die es sich zur Ehre schätzten, zur haute volée gezählt zu werden.

Der Kampf um Rang, Stand, Ansehen und Repräsentation ruhte in Blauberg, wie überall, mehr in den Händen der Frauen, als der Männer, und während sich die Letzteren nur geneigt zeigten, sich geistig zu gesellen, wogen die Damen behutsam die Ranges- und Standesunterschiede ab, bevor sie sich einem Kreise ganz hingaben.

Der Appellationsgerichtsrath Braunstein gehörte in der Stadt Blauberg zu den hervorragenden Persönlichkeiten. Er bewohnte das hübscheste Haus dort und hatte die eleganteste Frau. Er selbst war, trotz seiner zweinundfunfzig Jahre, noch ein hübscher, sehr feiner Mann, woraus er sich freilich leider Gottes gar nichts zu machen schien, und die Frau Appellationsräthin Braunstein konnte ebenfalls, ungeachtet ihrer siebenundvierzig Sommer, noch in der Reihe schöner Frauen auftreten, worauf sie denn auch so viel Werth legte, daß sie mit einer Sorgsamkeit, die an’s Lächerliche grenzte, die moderne Ausstaffirung ihres siebenundvierzigjährigen Körpers besorgte.

Der Morgen eines Septembersonntages war beinahe bis zur Mittagsstunde vorgerückt, als der Rath Braunstein, tief beschäftigt, in seinem Zimmer weilte, während die Frau Räthin mit exemplarischer Geduld und Gelassenheit Toilette in ihrem Boudoir machte.

Von fern her drangen die Töne einer Militairmusik, auf die sie mit wohlgefälligem Kopfnicken bisweilen lauschte, und endlich, unter den rauschenden Klängen der Wilhelm-Tell-Ouvertüre, vollendete sie ihr gelungenes Kunstwerk einer Modedame, indem sie die Hutbänder ordnete und die knappen Handschuhe überpreßte.

Noch einen einzigen Blick warf sie in den Ankleidespiegel, der ihre ganze Figur in gewünschter Breite wiedergab, und dann trippelte sie eilig über den Vorsaal hinweg, um mit einigem Eclat die Thür zu ihres Mannes Zimmer zu öffnen.

„Nun, Eduard, bist Du fertig?“ fragte sie im Eintreten, ohne jedoch die Blicke von ihren Handschuhen emporzuheben, die sich beim Zuknöpfen widerspenstig zeigten.

Der Rath fuhr erschreckt von seinem Schreibtische empor. Sein Blick verrieth eine völlige Abwesenheit der Gedanken und das Lächeln der Zerstreutheit thronte auf seinen Lippen.

„Was meintest Du, Laurette, was?“ fragte er sanft.

Die Dame hatte aber schon die wenig schmeichelhafte Entdeckung gemacht, daß sie einmal wleder vollständig von ihrem Gatten vergessen worden war. Er saß im Schlafrocke, wie an jedem anderen Sonntage, und schrieb.

„Mein Himmel, was soll ich davon denken, Eduard? Du hast Dich ja nicht angezogen!“ rief sie, weit weniger sanft, als er.

„Weshalb anziehen?“ fragte der Rath, augenscheinlich mit seinen Gedanken schon wieder bei seinem Referate.

„Willst Du etwa nicht mitgehen?“ warf die Räthin pikirt ein.

„Wohin?“

„Nach der Eisenbahn,“ antwortete sie kurz und ärgerlich.

„Wozu, Laurette, wozu?“

„Nein, das übersteigt denn doch Alles, was bis jetzt dagewesen ist!“ rief die Dame voller Unwillen. „Du hast kein Herz, wahrhaftig, Du hast kein Herz!“

„Wie so? Kein Herz? Nein, Laurette, ich habe nur keine Zeit, mit zur Eisenbahn zu gehen.“

Madame schlug die engbehandschuheten Hände kräftig zusammen.

„Daß sich Gott erbarme! Ja, Eduard, Du hast keine Zeit! Ich hätte es nachgerade lernen sollen! Du hast nie Zeit, niemals! Einen Mann zu besitzen, wie Du bist, ist doch das allerschlimmste Unglück für eine gefühlvolle Frau!“

„Aber, Laurette –“ wendete der Rath sehr sanftmüthig ein, indem er seine Feder wieder ergriff, eintauchte und Miene machte, weiter zu schreiben.

„Schreibe nur, ich will gar nichts dagegen haben,“ eiferte die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 637. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_637.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)