Seite:Die Gartenlaube (1858) 698.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

II
Der Verlust.

Vor noch nicht hundert Jahren war mein Großvater Leichtmatrose auf einem Grönlandsfahrer. Mit ihm zugleich wurde ein wohl zehn Jahre älterer Vollmatrose geheuert, der schon mehrere Fahrten in die Polargegenden gemacht hatte und in dem Rufe stand, ein geschickter Harpunier zu sein. Tom Peter, wie mein Großvater stets gerufen ward, mochte den Mann nicht gern leiden. Er war immer finster, that alle Arbeit anscheinend verdrossen, sprach nie mehr, als was hoch nothwendig war, und hielt sich fast immer allein. Dem Capitain gefiel das nicht, weshalb er Henricksen zur Rede setzte und ihm ein freundlicheres Wesen anbefahl. Etwas fruchtete diese Weisung des Capitains, allein ein wirklicher Umgang mit dem finstern Manne wollte doch nicht zu Stande kommen. Erst an der grönländischen Küste, als sich Wallfische zeigten und allem Vermuthen nach ein guter Fang in Aussicht stand, thaute Henricksen auf. Er arbeitete jetzt für Drei, war unermüdlich immer der Erste auf dem Platze, und die Harpune schleuderte er mit solcher Kraft und Geschicklichkeit, daß es nur selten der Nachsendung einer zweiten bedurfte, um einen einmal getroffenen Wallfisch nicht entrinnen zu lassen. Sowie aber das Schiff volle Ladung hatte und die Anker zur Rückreise gelichtet wurden, verfiel Henricksen wieder in sein früheres Schweigen, und auch die scharfen Worte des Capitains konnten nichts weiter darin ändern. Mein Großvater mag jetzt selbst weiter erzählen:

Ich ging dem unfreundlichen Manne überall aus dem Wege, was nicht schwer war, da er selbst ja Niemand suchte. Nur in einer Nacht, wo ich zugleich mit Henricksen die Wache auf Deck hatte, konnte ich ihm nicht ausweichen. Es war Pflicht, uns dann und wann zu sprechen, wenn sich das Gespräch selbst auch nur auf wenige Worte beschränken sollte.

Wider Erwarten und auch ganz gegen meinen Wunsch näherte sich Henricksen in dieser Nacht alsbald meinem Platze am Bug des Schiffes. Anfangs sprach er nicht, ich konnt’ es ihm aber ansehen, daß er sprechen wollte. Nur getraute er sich nicht recht, zuerst das Schweigen zu brechen, vermuthlich, weil er fühlen mochte, daß mir dies auffallen müsse. Ich aber nahm mir vor, gar nicht auf ihn zu achten, bis die Pflicht es mir gebieten würde.

Wohl eine Stunde lang ging Henricksen an der Backbordseite des Schiffes unermüdet auf und nieder, dann setzte er sich auf die Ankerwinde, holte tief Athem, als drücke ihn etwas, kehrte sein finsteres Gesicht mir zu und sagte:

„Tom Peter, ich bin Dir gut, sei mein Freund!“

Dabei streckte er mir seine breite Hand entgegen und ein bittender Blick traf mein Auge. Ich antwortete zwar nicht, meine Hand aber legte ich, fast ohne es zu wissen, in die dargereichte Rechte.

„Setze Dich zu mir, Tom Peter,“ fuhr er fort, „und höre mich an. Wir sind jetzt ganz allein. Der alte Brummbär von Capitain schläft, der Mann am Steuer kann uns nicht belauschen, und wir haben Mondschein und prächtigen Segelwind. Willst Du mir auch ruhig zuhören?“

Ich gab meine Bereitwilligkeit durch einen Händedruck zu erkennen.

„Weißt Du, Tom Peter, was mich so still macht?“ fuhr er fort.

„Wie soll ich das wissen, Henricksen?“ erwiderte ich. „Hast Du in den vier Monaten, die wir nun in See sind, doch keine zehn Worte mit mir gesprochen!“

„Das Unglück ist’s, Tom Peter, ein schreckliches Unglück!“

„Ich hab’ so ’was vermuthet.“

„Hast Du eine Braut?“

„Nein, Henricksen; wär’ auch zu früh für mich.“

„Ich hatte eine, ein herziges Kind! Du hättest sie kennen sollen!“

„Ist sie gestorben?“

Henricksen seufzte, sein Auge blickte zum gestirnten Himmel, und während seine Hand sich schwer auf meinen Arm legte, sagte er langsam:

„Ich weiß nicht!“

„Sie ward Dir doch nicht untreu?“

Henricksen verneinte.

„Dann raubte man sie Dir?“

„Möglich! Möglich!“

„Möglich? Aber Henricksen –“

Seine eisenharte Hand legte sich so fest um meinen Arm, daß mich der starke Druck schmerzte.

„Ich fürchte,“ sagte er mit dumpfer, zitternder Stimme, „man hat sie um’s Leben gebracht!“

Ich sah ihn ungläubig, mißtrauisch an. Redete der Mann vielleicht irre? Sein ganzes Aussehen konnte der Vermuthung Raum geben, daß er seines Verstandes nicht vollkommen mächtig sei.

„Glaube nicht, Tom Peter,“ fuhr er fort, „daß ich mich nur mit leeren Einbildungen quäle. Ich will Dir den Hergang, soweit ich ihn kenne, genau berichten. Es sind jetzt gerade drei Jahre her, daß ich mich mit Marie Anne verlobte. Wir waren Nachbarskinder und Gespielen gewesen von Jugend auf. Ich ging mit dreizehn Jahren zur See, Marie Anne nahm einen Dienst an, sowie sie die Schule verließ. Drei Jahre später erst kam ich von meiner ersten Reise zurück und sah sie wieder. Sie gefiel mir besser, denn je, und halb im Scherz, halb im Ernst nahm ich ihr das Versprechen ab, das sie mir auch lachend gab, sie solle sich nicht etwa verloben, ehe sie mich noch einmal gesprochen habe. Nun blieb ich über vier Jahre vom Hause und hatte mich tüchtig in der Welt umgesehen. Ich war ein ganz stattlicher Bursche geworden. So trat ich vor Marie Anne hin, die ich ebenfalls zu ihrem Vortheil verwandelt fand, und da sie ihr Versprechen gehalten hatte und ich wohl merken konnte, daß sie mich leiden mochte, so waren wir bald einig. Unsere beiderseitigen Eltern waren schon seit Jahren todt, nahe Verwandte besaßen wir auch nicht, und so verlobten wir uns denn unter dem gegenseitigen Abkommen, daß wir noch ein paar Jahre tüchtig arbeiten wollten, um etwas vor uns zu bringen. Erst wenn uns dies gelungen sein werde, wollten wir heirathen. Glücklich, wie nie zuvor, ging ich fort, um ein paar Ringe zu kaufen. Ich bedurfte dazu einen Tag Zeit, weil der Wohnort meiner Braut hart an der Küste lag und die nächste Stadt einige Meilen entfernt war. Als ich nun wieder zurückkomme, finde ich den kleinen Ort in größter Aufregung, kaum aber erblickt man mich, so werde ich umringt und mehr denn Einer ruft mir erbittert zu: „Wo ist Marie Anne? Wo hast Du sie gelassen?“

„Entsetzt über diese Fragen, vermag ich anfangs nicht einmal zu antworten. Da gewahren auch die so heftig in mich Dringenden ihren Irrthum und führen mich theilnehmend zur Herrschaft meiner Braut. Hier erfuhr ich das Entsetzliche.

„Bald nach meiner Entfernung im abendlichen Zwielicht war ein Mann in’s Haus des Küsters, wo meine Braut diente, getreten. Es hatten ihn Mehrere gesehen und Alle glaubten, da er von Gestalt mir völlig gleich, ich selbst sei es gewesen. Später sah man ihn die Wohnung des Küsters in Begleitung Marie Anne’s wieder verlassen. Man gewahrte Beide mit einander sprechend der Meeresküste zuwandern, dort den Strand hinabgehen und hier längere Zeit verweilen. Zurückkommen sah Marie Anne Niemand, auch ihr Begleiter war verschwunden. Ein paar Leute, die ihn vor meiner Entfernung aus der Wohnung des Küsters gesehen zu haben behaupteten, sagten aus, er habe sich von mir nur durch sein strohblondes Haar unterschieden.

„Alle Nachfragen nach der auf so unbegreifliche Weise Verschwundenen blieben erfolglos. Daß sie am Strande verunglückt sei, war nicht wohl anzunehmen, das Wahrscheinlichste blieb eine durch Gewalt oder Schlauheit bewerkstelligte Entführung. Wer aber war der Räuber meiner Braut? Wem konnte Marie Anne so großes Vertrauen schenken, daß sie ihm arglos zu folgen sich entschloß? Wie oft ich mir diese Fragen vorlegte und über deren Beantwortung nachdachte, zu einem Ziele führten sie mich doch nicht. Meine Braut war und blieb für mich verloren!“

Henricksen schwieg. Die Erzählung hatte ihn erschüttert. Ein paar Thränen zitterten an den Wimpern seiner Augen.

„Hast Du denn gar keinen Verdacht gegen Jemand?“ fragte ich den tief Betrübten.

„Nicht den geringsten,“ erwiderte Henricksen. „Unter allen meinen Bekannten war nicht Einer, der sich durch strohgelbes Haar kenntlich machte. Blondhaarige Matrosen kannte ich viele, es waren aber lauter offene, treuherzige Jungen, die nicht einmal wußten, daß ich eine Braut hatte. Sie waren nie in die Nähe ihres Wohnortes gekommen, denn sie hielten sich im Hafenplatze, wo unsere Schiffe lagen, auf. Erst sehr spät, nach Jahresfrist, brachte mich eine längere Unterredung, die ich zufällig mit einem alten Robbenschläger

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 698. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_698.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)