Seite:Die Gartenlaube (1859) 312.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

von Kurland ist bereits im heutigen Geschlechte der Landschaft eine fast sagenhafte Erinnerung. Wäre die Landschaft katholisch, so würde ihr Grabhügel vielleicht schon bald ein Wallfahrtspunkt, ihr Dasein das einer Localheiligen sein. Der Volksmund hat die Erzählungen von ihr in dieser Weise gestaltet. Fast noch mehr aber geschah dies in ihrer Heimath, unter dem kurländischen Adel, nachdem er empfunden hatte, welchen Tausch er gemacht, als er sein Herzogthum der Kaiserin Katharina II. „bedingungslos zu Füßen gelegt.“

In Mitau, der ehemaligen Herzogsresidenz, liegt dicht an der semgallischen Aa ein einsamer, halb verwilderter Garten mit einem ehemals prachtvollen Hause. Zwei majestätische steinerne Löwen bewachen den Eingang, Seitwärts streckt sich ein tiefdunkler Weg in das dichtverwachsene Laubgrün hinein. Je weiter man darin vordringt, desto heller lichtet sich sein Ende, welches ein offenes Tempelgebäude bildet, worunter eine Marmorbüste die wunderschönen Kopfformen und Gesichtszüge der herzoglichen Tochter des Grafen Johann Friedrich Medem darstellt. „Für Anna Charlotte Dorothea, Kurlands Herzogin, Kurlands dankbare Ritterschaft“, lautet in deutscher Uebersetzung die lateinische Inschrift dieses Denkmales, welches der kurländische Adel drei Jahre nach der Herzogin Tod errichtete. Aber heute ist der Grund und Boden, worauf es steht, nicht einmal mehr im Besitze eines Mitgliedes seiner wohlconservirten Ritterschaft. Im Aufstrich ward die „Villa Medem“ nach dem Tode ihres kinderlosen Herrn verkauft und von einem französischen Einwanderer erstanden, welcher mit Ludwig XVIII. von Frankreich gekommen und von diesem geadelt war. Spottend nannten ihn die stolzen eingebornen Freiherrn den „Grafen ohne Vorfahren und Nachkommen.“ Aber wie steht es um die Pietät der geschlechtsstolzen Aristokratie, welche das letzte Denkmal ihrer selbstständigkeitsstolzen Zeit dem Fremdling anheimfallen ließ?




Anna Luise Germaine Necker.

So war der Name eines bedeutenden Kindes, das später als Frau einen berühmten Namen gewonnen: es war die als Schriftstellerin hochgepriesene Frau von Staël-Holstein. Die Zeit ihres Rufes und ihres Glanzes fiel in die erste französische Revolution. Napoleon I., der die Welt zittern machte und bezwang, bis sie ihn überwand, fürchtete die gewandte Feder und die Geistesmacht der Staël-Holstein so sehr, daß er sie aus Frankreich verbannte. Die Zeit der Kindheit und Jugend von Germaine Necker war reich und glücklich, ihr Vater war ein berühmter Staatsmann und ihre Mutter, Tochter eines armen protestantischen Predigers zu Genf, eine hochgebildete Frau. Sie sah eine Menge bedeutender Persönlichkeiten, die alle dem geistig regen Kinde Aufmerksamkeit und Liebe schenkten. Wenn ihr Vater sich von den erdrückenden Staatsgeschäften erholen wollte, so zog er sich mit den Seinen nach seinem Gute Coppet zurück. Coppet liegt am Genfer-See und seine alte Geschichte – Coppet soll schon zur Römerzeit gestanden haben –, sein bewegliches Leben, seine Schifffahrt, sein Weinbau, seine Fischerei regten die Phantasie des Kindes an, so daß der Aufenthalt in Coppet eine Freudenzeit für Germaine Necker war. Aus dem viel bewegten Leben der Frau von Staël hat ein Biograph derselben eine Anekdote aus ihrer Kindheit aufbewahrt. Sie schrieb in ihrem elften Jahre an den berühmten Geschichtsschreiber Gibbon:

„Herr Gibbon!

„Eine wichtige Angelegenheit zwingt mich, Ihnen zu schreiben; nur Ihnen allein kann ich sie sagen; bitte, kommen Sie zu mir.

„Sie wissen, ich bin in Coppet, wo ich den ganzen Sommer wegen meiner Gesundheit bleiben soll.

„Ich bin, Herr Gibbon, in ausgezeichneter Verehrung

Ihre 
Anna Luise Germaine Necker.“

P. S. Ich bitte Sie um Alles, nicht zu glauben, daß es eine Kinderei sei. Ich bin kein Kind mehr; leider hören Sie nur zu oft, daß meine Mutter zu mir sagt: „Tenez-vous droite!“ aber ich bin kein Kind mehr, und es beleidigt mich zu sehr, wenn ich in Ihrer Gegenwart wie ein Kind behandelt werde.“

Einige Tage nach Abfassung dieses Briefes wanderten zwei Männer nach dem schön gelegenen Schlosse des Herrn Necker zu Coppet.

„Ich bin sehr begierig,“ sagte der Eine, „welche wichtige Begebenheit Germaine Ihnen mittheilen will.“

„Eins bemerke ich Ihnen, Necker, daß Ihre Tochter mir nur unter vier Augen ihre Mittheilung machen will.“

„Ich werde kein tyrannischer Vater sein, lieber Gibbon, ich lasse Sie mit meinem Kinde allein, und werde mich gleich von Ihnen trennen, denn ich habe in der Nähe des Schlosses ein Geschäft abzumachen. Haben Sie meiner Frau Germaine’s Brief gezeigt?“

„Gewiß nicht,“ sagte Gibbon, „sie würde vielleicht dem lieben Kinde gezürnt haben.“

„Germaine ist weniger Kind, als sie für ihr Alter sein könnte; sie entzückt mich oft durch ihren scharfen Verstand, durch ihren Witz, durch ihre Lebhaftigkeit. Aber mein Vaterauge sieht vielleicht zu viel –“

„Nein, Necker,“ antwortete Gibbon, „Ihr Kind wird einst eine außerordentliche Frau werden. Welcher Geist, welche Freiheit beseelt sie! nur Ihre Frau will es nicht sehen, sie behandelt sie als Kind.“

„Meine Frau sieht es wohl, aber sie will, daß sie lange in dem Garten der Kindheit bleiben soll; doch der Weg, den sie ihr dafür frei halten will, ist manchmal rauh, und ich suche ihn zu ebnen. Germaine zeigt mir ihr ganzes Herz, und mein Herz hängt an dem ihren. Ihr Geist überwiegt ihren zarten Körper, sie soll die Landluft genießen, darum soll sie den ganzen Sommer in Coppet, das sie so sehr liebt, sein, und ich finde auch, daß ihre Farben frischer geworden sind, seitdem sie hier ist.“

„Da sind wir,“ sagte Gibbon, „was mag sie wollen?“

„Was wird es sein? sie wird etwas aus der Geschichte von Ihnen wissen wollen. Sie kennen ihre Hauptfreude, Puppen von Papier zu machen, Tragödien zu schreiben und sie aufzuführen; ich höre ihr manchmal verstohlen zu und ich versichere Sie, daß jeder ihrer Helden im Geiste seiner Rolle bleibt. Gewiß hat sie einen historischen Grund für irgend ein Stück, und da Sie ein bedeutender Geschichtsforscher sind, so –“

„Nein, Necker,“ sagte Gibbon, „der Styl des Briefes ist zu ernst, die Sache muß wichtig sein.“

„Wenn sie so wichtig ist, wie Germaine’s Spiel in diesem Augenblick – sehen Sie!“

Gibbon sah Germaine einen Kinderwagen ziehen, in welchem ein kleiner Knabe saß. Die lebhafte Bewegung hatte ihre Wangen geröthet, das schöne Haar hing in langen Zöpfen im Nacken herunter, die schwarzen, klugen Augen glänzten voll Leben und Lust.

Herr Necker stand hinter Gibbon, um sich nicht sehen zu lassen, und sagte lächelnd und seufzend: „Gut, Germaine, daß Dich Deine Mutter nicht sieht, jetzt würde der Augenblick sein, um das Dich so demüthigende „Tenez-vous droite!“ zu hören.“

„Ich glaube fast, daß sie mich kommen ließ, um mich mit anzuspannen; ich werde gern mitspielen, ich werde meine fünfzig Jahre vergessen.“

Die Männer trennten sich. Gibbon ging in den Park. Als Germaine ihn kommen sah, blieb sie stehen, ihre Wangen wurden noch röther und sie rief aus:

„Herr Gibbon, wie schäme ich mich, daß Sie mich so finden! Was werden Sie von mir denken nach meinem Brief, in dem ich Sie aufforderte, zu mir zu kommen, weil ich Ernstes mit Ihnen zu besprechen habe?“

„Was ich von Ihnen denken soll? Nur Gutes, Mademoiselle,“ sagte Gibbon, indem er sich achtungsvoll verneigte, „eine solche Bewegung ist der Gesundheit sehr dienlich, und ich selbst würde –“

„Sie scherzen, wie mein Vater,“ sagte die Kleine mit empfindlicher Miene.

„Bitte, glauben Sie mir, ich finde –“

„Nicht doch, necken Sie nicht,“ unterbrach Germaine.

„Wohl, Mademoiselle, ich bin gekommen, um Ihre Befehle zu hören.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_312.jpg&oldid=- (Version vom 31.5.2023)