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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

nicht geschärft, sondern eher durch die ihm aufgezwungenen fremden Worte nur ertödtet werden.

Besonders werden darin alle jene langen Leute vernachlässigt, die mit der Confirmation die Schule verlassen und in ein Geschäft oder einen andern Wirkungskreis treten. In der Schule kamen sie höchstens einmal alle drei oder vier Wochen daran, ein Gedicht zu „declamiren“ und, aus der Schule heraus, wird ihnen gar keine Gelegenheit mehr geboten, sich zu üben – als Lehrling verlangt man sogar von ihnen, daß sie den Mund nicht aufthun, bis sie gefragt werden. Und wie stehen sie dann da, wenn sie später einmal, ob auch mit tüchtigen Kenntnissen ausgestattet, in einen weiteren Wirkungskreis, in die Welt treten? Sie können in vielen Fällen das, was sie wissen, nicht einmal verwerthen, in den Kammern der Abgeordnetem z. B. das nicht bekämpfen, was sie für unrecht, das nicht vertheidigen, was sie für recht hatten, und sind dann höchstens als „Stimmzettel“ zu gebrauchen.

In dieser Hinsicht sind uns Engländer und Amerikaner weit voraus, und zwar durch ein ganz einfaches, besonders in Amerika in den meisten Schulen eingeführtes Mittel, eine vortreffliche Redeübung, der beizuwohnen ich selber oft Gelegenheit hatte und die ich hier jetzt näher beschreiben will.

Ganz von dem Grundsatze ausgehend, daß man durch Declamiren auswendig gelernter Stücke nie wird frei reden lernen, sondern daß der Schüler einen gegebenen oder selbst gefundenen Stoff haben muß, über den er zu sprechen versucht, werden in den amerikanischen Schulen gewöhnlich allwöchentlich sogenannte Debatten gehalten, und ich selber bin oft Zeuge gewesen, mit welchem Eifer nicht allein die Schüler denselben beiwohnten, sondern auch, welche Freude die Lehrer selbst daran fanden.

Ich will mich hier darauf beschränken, eine kurze Anleitung einer solchen Debatte zu geben, und die Lehrer mögen dann selbst beurtheilen, wie leicht ausführbar dieselben auch in unseren Schulen sind und wie segensreich sie wirken können.

In den amerikanischen Schulen der Backwoods oder der westlichen Wälder versammeln sich gewöhnlich am Freitag Abend – da Sonnabends keine Schule ist – Lehrer und Kinder und nicht selten auch die Eltern der Letzteren zu jenen regelmäßigen sogenannten „Debatten“.

Vorher schon wird den Schülern zur Pflicht gemacht, daß sich Jeder eine passende Frage zur Debatte ausdenke – wie auch die Lehrer einige in Vorschlag haben müssen, damit beim Zusammenkommen nicht zu viel Zeit mit der Wahl des Stoffes versäumt werde.

Gleich nach der Zusammenkunft wird ein Richter gewählt, oder sind Erwachsene genug dazu vorhanden, so kann man auch drei zu Richtern nehmen.

Viele lassen sich jetzt die verschiedenen Vorschläge zur nächsten Debatte sagen, irgend einen passenden Stoff auszuwählen, oder legen auch selber der Versammlung – jedenfalls das Kürzeste – einen Stoff zur Abstimmung vor.

Sobald man sich darüber geeinigt hat, geht es an die Wahl der beiden debattirenden Parteien. Es geschieht dieselbe auf rasche unparteiische Weise, die jede Vorbereitung unmöglich macht, denn es ist ein Hauptzweck dieser Redeübungen, nicht etwa auswendig Gelerntes oder vorher sorgfältig Ueberdachtes herzusagen, sondern im Augenblicke selbst einen selbständigen Gedanken zu fassen und ihn auszusprechen.

Der oder die Richter wahlen nämlich aus der Zahl der Lehrer oder der am meisten befähigten Schüler zwei Capitaine oder Führer, die wir A. und B. nennen wollen.

A. hat jetzt das Recht, sich aus der Schaar der Schüler einen auszuwählen, und er nimmt natürlich den, den er für den Befähigtsten hält; ist das geschehen, so sucht sich B. ebenfalls einen Schüler für seine Seite aus, dann kommt A. wieder an die Reihe und dann B., und so abwechselnd, bis sämmtliche Schüler in zwei verschiedene Parteien getrennt sind und nun auch zwei verschiedene Seiten der Stube einnehmen, jede Verwechselung zu vermeiden.

Zwischen A. und B. mag vorher noch das Loos entscheiden, wer den ersten Knaben wählen darf, damit von keiner Seite eine Klage erhoben werden sann.

Natürlich dürfen, besonders im Anfange, den Schülern nicht zu schwere Stoffe zum Debattiren aufgegeben werden. Sie müssen sich alle in dem Kreise ihres Fassungsvermögens bewegen, und mit der Zeit werden sie dann schon selbst auf mehr verwickelte Sätze und Streitfragen gebracht werden.

Hier will ich also annehmen, daß die Versammlung beschlossen hatte, zu debattiren:

„Ob Gold oder Eisen dem Menschengeschlecht den größten Segen gebracht habe?“

Dem Richter liegt es jetzt ob, mit ein paar kurzen einleitenden Worten beiden Parteien die Frage, um die es sich handelt, vorzulegen, und er bestimmt dabei, wenn sich die beiden Führer nicht selber darüber einigen können, welche Partei die Vortheile des Goldes, welche die des Eisens vertheidigen solle.

Ich will annehmen, daß A. überkommen hätte, das Gold und dessen Vortheile dem Eisen gegenüber hervorzuheben.

A. nimmt jetzt – gegen den Richter gewandt – das Wort und sucht in allgemeinen Umrissen, ohne zu sehr auf Einzelheiten einzugehen, die Vortheile hervorzuheben, die der Besitz des Goldes den Menschen gebracht habe, wie die Nachtheile, die ihm durch den Gebrauch des Eisens erwachsen sind.

Danach spricht B. im anderen Sinne, und die einzelnen Schüler eröffnen jetzt die Debatte, indem sie abwechselnd, zuerst Einer von A.’s, dann ein Anderer von B.’s Partei, auftreten und ihre Seile der Streitfrage zu verfechten suchen.

Eine gewisse Zeit, wie lange Jeder sprechen darf, mag bestimmt werden, aber Jeder muß reden und seine Meinung aussprechen, darauf haben die Lehrer besonders zu achten, denn die Schüchternen, die solche Uebung am nothwendigsten brauchen, würden sonst nie das Wort ergreifen.

Mögen dann auch manchmal wunderliche und komische Schlüsse auftauchen – lieber Gott, selbst in den Kammern fehlt es ja daran nicht – die Kinder dürfen nicht irre gemacht werden, und mit dem Bewußtsein, daß sie die Pflicht und das Recht zu reden haben, werden sie auch bald die alle Scheu überwinden und nach und nach lernen, ihre eigenen Gedanken auf den einen Punkt zu sammeln und mit der Zeit geordnet auszusprechen.

Haben nun beide Theile geendet, so nehmen die Führer noch einmal das Wort, das Resultat ihrer beiden Parteien klar und deutlich zusammenzufassen, und ist das geschehen, so entscheidet der oder die Richter, welche Partei am überzeugendsten gesprochen habe – welcher also der Sieg zuzuerkennen sei.

Bleibt dann noch Zeit, so mag eine neue Debatte gewählt werden, zu der man, wenn man will, wieder neue Richter und Führer ernennen kann.

Sehr wünschenswert ist es, daß da, wo es angeht, auch die Väter oder Eltern der Schüler – wenigstens zu Zeiten – solchen Debatten beiwohnen. Sie brauchen natürlich nicht Alle hinzugehen, aber schon wenig Erwachsene üben einen wohlthätigen Einfluß aufs den Ehrgeiz der Kinder aus. Ueberdies schadet es, besonders auf dem Lande, den alten Bauern gar nichts, wenn sie einmal gezwungen werden, über etwas Anderes nachzudenken, als ihre Saaten und Aecker.

Eine Hauptsache bei diesen Debatten ist die, einen richtigen und treffenden Stoff für die Kinder zu finden, der nicht allein belehrend, sondern auch unterhaltend auf sie wirkt. Aber die Welt ist so reich an Stoff, daß es daran nicht fehlen kann. Außerdem gibt es in jeder Stadt, in jeder Commune eine Menge von Dingen und Angelegenheiten, über die verschiedene Meinungen herrschen, und es wird dann stets in der Hand des Lehrers liegen eine passende Debatte einzuleiten und seinen Schülern Mittel an die Hand zu geben, sich Aufklärung darüber zu verschaffen.

Allgemeine Stoffe zu Debatten finden sich deshalb in Masse, und ich will nur einige hier anführen, den Reigen zu eröffnen. Jeder Lehrer wird darnach leicht, den Fähigkeiten seine Schüler entsprechend, andere finden und benutzen können.

1. Hat Furcht vor Strafe oder Hoffnung auf Belohnung den größten Einfluß auf die Thaten der Menschen?

Braucht ein guter Mensch beide?

2. Wer ist der verächtlichste Mensch – ein Lügner oder ein Heuchler?

3. Ist Ehrgeiz eine Tugend aber ein Laster?

4. Ist das Pferd oder der Stier das dem Menschengeschlecht nützlichste Thier?

5. Welches Gefühl gewährt uns mehr Freude, das der Hoffnung oder das der Erinnerung?

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_374.jpg&oldid=- (Version vom 28.6.2023)