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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Stimmung. Dann setzte ich mich an den Flügel und spielte. Wie ich aber auch anfing, bald waren meine lieben Volkslieder mir unter den Fingern und zauberten mir meine Heimath in ihrer ganzen Schöne vor die Seele. Ich schwamm den Rhein herunter, lag an dem Strande der Saale; ich wanderte durch das liebe Thüringen oder am Fuße des Odenwaldes. Wen nimmt es Wunder, daß ich, erwachend aus diesen Träumereien, oft mit beiden Händen auf die Tasten schlug und durch diese Dissonanz mich wieder in die platte Wirklichkeit versetzte? Wenn ich dann aufstand, bemerkte ich, daß ich nicht ohne Zuhörer gewesen war. Ich bezog das nicht auf mein Spiel. Ich wußte ja, welche Gewalt das einfache deutsche Lied auf jeden Menschen ausübt. Und so war ich allein geblieben inmitten einer glänzenden Gesellschaft und ordnete mein Gepäck – leicht Gepäck –, um mit ihm in New-York einzuziehen.

Die Rücksichtslosigkeit, mit der die Amerikaner bei einer Landung verfahren, ist nur zu bekannt, und unbegreiflich ist es, daß nicht größere Unglücksfälle sich ereignen. Mit einem Male fluthete der Strom der Aussteigenden nach der Landungsbrücke; rücksichtslos drängten die vom Lande dagegen, und ich sah, wie eine Dame in das Wasser fiel. Neben mir stand ein Eimer an einem Strick befestigt. Mit ihm wurde Wasser heraufgezogen. Ich befestigte den Strick und ließ mich hinunter. Es gelang mir die Verunglückte zu erreichen, ihre Kleider hatten sie über Wasser gehalten. Vergebens schrie ich um Hülfe, Niemand hörte mich. Das arme Mädchen war ohnmächtig geworden; ich glaubte schon, sie hinge leblos in meinen Armen. Es war ein Glück, daß ich den Eimer mit heruntergeworfen hatte. Meine Arme erlahmten. Ich kehrte den Eimer um, und setzte das Mädchen darauf. Diese Arbeit hatte mich so beschäftigt, daß ich aufgehört hatte zu rufen. Es war die höchste Zeit, daß ich mir diese Erleichterung verschaffte, denn ich hielt nur noch im Krampfe den Strick. Da erwachte die Unglückliche.

„Halten Sie diesen Strick!“ rief ich ihr zu, und instinctartig ergriff sie ihn mit beiden Händen.

Ich hörte nur noch, wie sie rief: „Harry, Harry!“ dann verließ mich auf einige Augenblicke das Bewußtsein. Ich ließ den Strick mit der einen Hand los, hatte aber glücklicherweise mit der andern Hand den Eimer gefaßt und war so vor dem Untergehen bewahrt. Nur durch meine Kleider behindert, wurde es mir nicht schwer, mich über dem Wasser zu erhalten, und bald hatte ich den Strick mit der andern Hand wieder ergriffen. Als ich aufsah, ließen sich schon Mehrere über das Verdeck herunter, und nachdem die junge Dame heraufgeholt war, ward auch ich glücklich heraufgezogen. Vergebens sah ich mich nach meinem Gepäck um. Es war verschwunden.

Todmüde, durch und durch naß, betrat ich den amerikanischen Boden. Sogar meine Kopfbedeckung hatte ich eingebüßt. Um mich bekümmerte sich Niemand. Der mich herausgezogen hatte, mochte es mir übel genommen haben, daß ich so ungütig ein kaltes Bad genommen hatte. Genug, ich stand auf amerikanischem Boden, durchnäßt von seinem Wasser, gefärbt von seinem Schlamm. Durch seinen Schlamm habe ich eine lange Zeit hindurchwaten müssen!

„Wenn Sie nur Einen Amerikaner für Sich interessirt hätten!“ sagte mein Freund zu mir. „Lehrer können Sie nicht werden, dazu passen Sie hier in Amerika nicht, und als Professor, wie ich, werden Sie nie angestellt, wenn Sie keine Fürsprache haben.“

„Und Sie?“

„Ich kann gar nichts thun. Ich bin ein Fremder und bleibe ein Fremder. Meine Collegen achten und schätzen mich, aber ich bin ein Fremder und habe keine Stimme. Das Collegium sollte einen Namen haben, deshalb haben sie mich von Göttingen hierher berufen. Meine Kinder werden keine Fremden mehr sein, und deshalb harre ich aus, sonst –“

Du guter, lieber Mensch! In Göttingen hatte ich ihn kennen gelernt. Er hatte damals schon einen Ruf nach Amerika. Man hatte ihm 50 Thaler Gratification gegeben, statt seinen Gehalt von 300 Thalern auf 600 Thaler zu erhöhen, und so hatte er die Professur in Amerika angenommen und war doch nicht zufrieden mit 2000 Dollars Gehalt. Amerika war ihm kein Ersatz für das Vaterland. Wir hatten uns zufällig wieder getroffen. Ich übergehe absichtlich meine Schicksale in Amerika. Sie sind so oft erzählt. Eins gleicht dem andern, wie ein Ei dem andern. Jetzt unterrichtete ich seine Kinder und war nebenbei Hausknecht bei einem Kaufmanne.

Wir waren auf einem Spaziergange. Als mein Freund eine lange Pause machte, fuhr gerade ein Wagen an uns vorbei, und ich hörte, wie ungewöhnlich laut und erregt eine Dame rief:

„Das ist er! Wahrlich, wahrlich, Harry!“

Ein junger Mensch bog sich aus dem Wagen und schien uns zu beobachten. Ich wollte meinen Freund aufmerksam machen, als Beide sich erkannten und freundlich begrüßten.

„Wenn der sich für Sie interessirte! Wenn ich das bewirken könnte, so wäre Ihre Zukunft gesichert! Sie wären herausgerissen aus dem gewöhnlichen Leben und würden der Wissenschaft wieder gehören.“

„Der?“ fragte ich erstaunt und spöttisch.

„Ich kenne Amerika, wie mein Griechenland!“ fuhr mein Freund fort, und er hatte Recht, denn er studirte es von seiner Studirstube aus, wie seine Alten in derselben, das wußte ich. „Er gehört zu den Regierenden im Lande, obgleich er noch zu jung ist, um ein öffentliches Amt zu bekleiden, und wohl nie eins bekleiden wird, weil er es nicht nöthig hat. Präsidenten und Gouverneure sind nur die ersten Commis dieser Aristokraten. Es ist nicht ihre Sache, sich um Politik zu kümmern, das thut kein Gentleman, aber dafür geschieht um so sicherer, was sie wollen. Sie lassen die Beamten Geschäfte machen, wenn sie ihnen zu Willen sind, und das sind die Beamten jeder Partei. Der Einfluß dieser Aristokratie, verborgen und unscheinbar, ist mächtiger als in irgend einem Lande. Sie haben Bureaukratie, Heer, Flotte und Presse in ihrer Gewalt; wenn sie wollen, können sie davon Gebrauch machen.“

„Dieser junge Mensch –“

„Wenn der Herzog von Weimar sich für Sie interessirte, würden Sie lange Hausknecht bleiben? Nun, dieser junge Mensch verwaltet mit Umsicht und Geschicklichkeit ein Vermögen, das ihm ein Einkommen von fast einer Million Dollars gewährt, vielleicht weit darüber. Das weiß Niemand, sieht ihm Niemand an, denn er lebt nicht besser und anders als Andere, hat keinen Hofstaat, keine Paläste. Reich will hier Jeder scheinen. Wer aber reich ist, will es nicht mehr scheinen. Er hat das, was hier Macht gibt, und muß sich daran begnügen lassen. Um ihrer selbst willen darf die Aristokratie dem Einzelnen nicht erlauben, mit seinem Reichthum die revolutionären Elemente zu reizen, sich zu überheben. Wer es wollte, den lassen sie fallen. Und bei der Rechts- und Gesetzlosigkeit hier fällt er sicher. Sein Reichthum zerrinnt ihm unter den Händen. Er ist ein Verlorner!“

Mein Freund ging noch tiefer ein auf die socialen Zustände Amerikas, und diesen Unterhaltungen verdanke ich viel. Ich schenkte ihnen um so größere Beachtung, als ich fand, daß Harry mit großer Aufmerksamkeit den Bemerkungen meines Freundes folgte.

Ich fand Harry – den jungen Mann aus dem Wagen – eines Abends bei meinem Freunde, wurde ihm vorgestellt, und seit der Zeit traf es sich mehrmals, daß er und ich uns dort zu der selben Zeit einfanden. Harry war sein Schüler gewesen, und mein offener Freund behandelte ihn als solchen und that sich in keiner Weise Zwang an. Von einer Freundschaft zwischen Harry und mir konnte keine Rede sein. Ich fühlte mich zuweilen zu ihm hingezogen, dann trennte uns wieder etwas Fremdes. Die meiste Schuld mochte ich haben. Mit Gewissenhaftigkeit und Treue erfüllte ich meine Pflichten als Hausknecht, aber hätte ich meinen Freund nicht gehabt, nicht seine Kinder – wer weiß, ob ich es ausgehalten. Eins machte mir große Freude, aber verdüsterte mich noch mehr.

Harry hatte gleich am ersten Tage mich gefragt, ob ich schon lange in Amerika sei. Ich erwiderte: „Nur einige Monate!“

„Die Fahrt mit einem Segelschiffe ist beschwerlich.“

„Deshalb zog ich das Dampfschiff vor.“

„Hatten Sie gut gewählt?“

„Ich kam mit dem Washington.“

Darauf hatte sich das Gespräch auf das deutsche Lied gelenkt.

„Kennen Sie Longfellow?“ fragte Harry mich. Ich bejahte es.

„Sehen Sie, wir verstehen Sie; Sie uns nicht!“ sagte er ernst und fügte dann wie begütigend hinzu: „Sie spielen auch die Lieder, die Longfellow übertrug?“

„Ja!“ sagte ich kurz, überrascht, wie er das wissen konnte.

„Dann –“ er sah sich im Zimmer um und lenkte darauf das Gespräch auf einen anderen Gegenstand.

Als ich nach einigen Tagen zu meinem Freunde kam, sprangen mir die Kinder jubelnd entgegen. Harry hatte einen prächtigen Flügel geschickt.

„Warum er nur nichts für Sie thut!“ sagte mein Freund nachdenklich zu mir. „Er kommt doch nur Ihretwegen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 462. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_462.jpg&oldid=- (Version vom 14.8.2023)