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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

„Und mein Sohn war doch auch einige Mal hier,“ unterbrach schnell, aber scheinbar ruhig der Schulrath diesen Bericht, und sah die Männer lauernd an, – „mich wundert es, daß er nichts davon erwähnt hat.“

„Wäre der Herr Assessor hier gewesen? Das kann nicht sein –“

„Den hat Niemand gesehen –“

„Der hätte Ihnen wohl auch erzählt davon –“

So antworteten die zwei Männer und meinten, das würde sich ja sogleich erfahren lassen, wenn der Herr Assessor wieder herein käme in die Stube.

„Nein, nein,“ entgegnete der Schulrath, „wir wollen kein Wort davon erwähnen.“

Es war auch nicht nöthig, denn in demselben Augenblicke trat ein Knabe in die Stube, machte vor dem Schulrathe einen tiefen Bückling und reichte ihm ein Billet hin.

„An mich Etwas?“ fragte der Schulrath.

„Ich soll’s nur in Ihre Hand geben, weil’s nicht versiegelt ist.“

„Schon gut, mein Junge,“ sagte der Schulrath, der die mit Bleistift geschriebene Adresse las und die Hand seines Sohnes erkannte.

„Mein Sohn ist jedenfalls nach Magdeburg zurück, kommt also nicht wieder herein,“ warf er ruhig den zwei Männern zu, während er dem Knaben einen Silbergroschen gab. „Da er nicht mündlich Abschied nahm, thut er es wahrscheinlich hiermit schriftlich,“ setzte er äußerlich mit Ruhe hinzu, während ihm doch das Herz klopfte.

Er trat in ein Fenster und öffnete das Billet, welches nur ein aus einer Brieftasche gerissenes und mit Bleistift beschriebenes Blatt war. Er las:

„Mein theurer Vater!“

„Ich sehe, wie Alles kommen wird. Du fragtest bereits, man antwortete Dir bereits. Jetzt wirst Du wissen, daß im Schulhause Besuch ist. Du wirst hingehen, und wärst Du noch nicht entschieden, so bitte ich Dich, daß Du Dich entscheidest, daß Du hingehst. Auch ich wollte hin, und darum begleitete ich Dich heute bis hierher. Ich habe im Wagen heiß mit mir gekämpft über die Frage, ob ich Dir nicht Alles mittheilen sollte. Ich entschied mich, jetzt noch zu schweigen, erst in nächster Zeit Dich zu bitten, denn Rosa ist Schauspielerin, Du wirst also gegen eine Verbindung mit ihr sein. Vor zwei Monaten lernte ich sie in Berlin kennen, sah und sprach sie im Ganzen nur drei Mal, habe sie aber nicht vergessen und werde sie nicht vergessen. Rosa weiß nicht, daß ich in Magdeburg wohne, und ich wußte nicht, daß der Schulmeister Schnurr ihr Oheim ist. Also keine Verabredung, keine Bestellung. Rosa kennt mich blos unter dem Namen „Theodor“, ich schien ihr nicht gleichgültig zu sein. Das ist Alles, Uebrigens hatte sie ein Verhältniß oder doch eine leisere Bekanntschaft mit einem Andern, der ebenfalls Schauspieler war. Und dennoch – ihr Bild ist, seit ich sie sah und sprach, nicht von mir gewichen, zum ersten Male fühle ich in meinem Leben die Gewalt der Liebe. Mein Vater, in welcher Stimmung saß ich heute neben Dir!

„Rosa’s Besuch bei Schnurr erfuhr ich durch die Fremdenlisten, die in meiner amtlichen Stellung mir vorliegen. Da jauchzte mein Herz, und dennoch durftest Du es nicht hören. Jetzt weißt Du Alles. Gehe hin, mein Vater, siehe das Mädchen, sprich mit ihm. Dann sprich mit Deinem Herzen. Was weiter kommen wird, weiß der Himmel. Nur Eins steht fest: so lange Rosa nicht aus meiner Seele weicht, heirathe ich keine Andere. Und Rosa wird nicht weichen. Mein theurer Vater, denke nicht an Präsidententöchter; vergib mir, daß ich Dir Leid bereite.     Dein Sohn.“


Nach Lesung des Briefes drückte der Schulrath seine Stirn an die Fensterscheibe.

„Ist doch nichts Unangenehmes?“ fragte der Wirth.

„O nein, mein Sohn hat Geschäfte,“ antwortete zerstreut der Schulrath.

„Er ist doch ein rarer Sohn, der Herr Assessor!“ lobte Jener. „Der Herr Doctor können stolz sein auf ihn!“

Der Dorfrichter stimmte bei, und sie sagten nicht zu viel. Theodor war ein junger, schöner, geistreicher Mann. Er besaß nicht nur Kenntnisse, sondern auch ein wackeres Herz, eine kräftige Gesinnung. Das Lob, welches gegenwärtig der Wirth und der Richter ihm zollten, bezog sich freilich mehr auf Jugend, Vermögen und Stand, und endete mit dem Bedauern, daß doch ein solcher Herr nicht heirathe, da er ja auch in dem vornehmsten und reichsten Hause nicht vergebens anklopfen würde.

Der Schulrath sagte zu allem dem nichts. Schweigend, aber mit raschen Schritten, durchmaß er die Stube. Dann verließ er die Stube, setzte sich draußen auf die Bank unter schattiger Linde, stützte bedenklich den Kopf in die Hand. Auch hier litt es ihn nicht lange. Er schritt an den Wagen, öffnete den Kutschkasten, wühlte unter Aktenstücken, las halblaut die Titel: „Ablösungen,“ „Kirchenbau“, „Ausschulungen“, „Pfarrvergleiche“, „Kirchrechnungen“, „Revisionsprotokolle“, und dieses letztere Stück nahm er heraus, klemmte es unter den Arm, verschloß den Kasten wieder und ging.



III.

Das Schulhaus. Vor demselben ein Blumengärtchen, hinter demselben ein weiter Obstgarten. Der Schulrath schreitet ungesehen an den Zäunen hin, und als er in die Nähe des Hauses kommt, bleibt er stehen. Er horcht. Wieder geht er einige Schritte, dann horcht er von Neuem. „Die Kinder antworten im Chor,“ spricht er vor sich hin, „aber ungewöhnlich lebhaft und fröhlich geht’s zu!“

Und je näher er schritt, desto öfter blieb er stehen und schüttelte den Kopf. Und als er auf den Stufen vor der Hausthüre stand, da schallte es ihm laut und halb lachend und nun auch vollkommen verständlich aus dem Munde der Kinder entgegen:

„Ein toller Wolf in Polen fraß
Den Tischler sammt dem Winkelmaß!“

„Und nun ein anderes!“ commandirte drinnen der Schulmeister.

Und von Neuem fuhr es wie ein Kanonenschlag aus dem Munde der Kinder:

„Die Nonne und der Nagelbohr,
Die kommen oft in Naumburg vor!“

„Mein Gott, was ist das!“ rief leise der Schulrath, und zornroth wurde sein Gesicht. „Ich fürchte, Schnurr ist verrückt geworden, oder er will auch mit auf’s Theater!“

„Und nun ruhig, ihr Kinder!“ befahl jetzt Schnurr ernst und würdig mit vollem Lehrton, „der Spaß muß auch seinen Nutzen haben! Und das allezeit im Leben! merkt euch das, Kinder’ machet niemals einen groben, unnützen, dummen Spaß!“

Die Kinder waren mäuschenstill geworden. Der Schulrath lauschte und stand jetzt an der Stubenthüre, schon die Hand an die Klinke legend.

„Also den Nutzen!“ fuhr Herr Schnurr drinnen fort. „Du, Müller, der ältere, paß’ auf, und zähle schnell die Worte: „Die Nonne und der Nagelbohr, die kommen oft in Naumburg vor,“ also wie viel?“

„Zehn!“ antwortete ein Knabe.

„Falsch gezählt!“ tadelte Herr Schnurr. „Wie viel Worte? wer weiß es?“

„Elf Worte!“ tönte es im Chor.

„Und wie viel Mal kommt der Buchstabe n, groß geschrieben, in diesen elf Worten vor?“ fragte Jener weiter.

„Drei Mal!“ war die Chorantwort der Kinder.

„Richtig. Und nun ist’s aus damit! Nehmet die Rechnentafeln zur Hand!“ befahl Herr Schnurr.

„Bitte, Herr Schulmeister, auch noch den „Wolf“ und das „Winkelmaß“!“ bat ein Kind.

„Ein ander Mal! jetzt wird gerechnet!“ klang ruhig des Lehrers Wort.

Da drückte der Schulrath die Klinke. Die Thüre knarrte, that einige Zoll weit sich auf. Herr Schnurr guckte erst hin, dann ging er, und öffnete die Thüre völlig und mit den Worten: „Wer ist denn da?“

„Ich,“ antwortete der Schulrath gemäßigt, „treten Sie doch heraus.“

„Mein Gott!“ rief in den Tod erschrocken der Heraustretende. „Der Herr Doctor! wie kommen denn der Herr Doctor –“

„Das ist gleichviel, wie ich komme,“ sagte dieser, indem er die Thüre zudrückte, „und der angefügten Nutzanwendung wegen sollen Sie ohne tüchtigen Verweis wegkommen! Hören Sie wohl? ohne tüchtigen Verweis! Aber verweisen muß ich Ihnen immer diese Spielerei, das sehen Sie ein, Herr Schnurr! Die Zeit, wo diese Methode blühte, ist vorbei!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 507. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_507.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)