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verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Friedrich Scherer,

der Apostel der Blinden.
Vom Verfasser der Novelle „Blind und doch sehend.“

Wie einst in einem dunklen Dorfe Frankreichs an ein armes Hirtenmädchen der Ruf des Geistes erging, ihr Vaterland vom Joche der Fremdherrschaft zu erlösen, so schlug in die Seele eines armen blinden Knaben aus einem bairischen Dorfe das Bibelwort: „Thue deinen Mund auf für die Sache Derer, die verlassen sind“, als eine Gottesmahnung, für seine blinden Brüder und Schwestern aufzutreten und ihnen durch Wort und That eine bessere Zukunft zu erkämpfen. Dieser Knabe war der Sohn des wackeren Maurermeisters Leonhardt Scherer in Ehgingen, einem Pfarrdorfe des königl. bairischen Landgerichtes Wasserdrüdingen in Mittelfranken. Im Jahre 1823 gesund und kräftig zur Welt gekommen, hatte der kleine Friedrich schon im zweiten Lebensjahre das Unglück, durch die Schuld eines Quacksalbers, der ihn in einer Kinderkrankheit behandelte, die Himmelsgabe des Augenlichtes und bald darauf auch seinen Vater zu verlieren. Die Mutter hatte Mühe, sich mit ihren vier unerzogenen Kindern und einer alten Großmutter redlich durchzubringen; daher konnte sie dem blinden Knäblein nicht die Sorgfalt widmen, zu der sie ihr Herz wohl trieb. Obgleich seit jener Krankheit immer kränklich, war das Kind dennoch munter und verriet zeitig einen regen, wißbegierigen Geist. Diesem konnte die Mutter im Verein mit der Großmutter nur spärliche Nahrung reichen durch Vorsagen von Sprüchen und Erzählen von Geschichten, die das Knäblein begierig anhörte und so in sein Gedächtniß aufnahm, daß es sie sogleich treulich wiedergeben konnte. Gleichzeitig mit seinem Gedächtniß bildete sich sein Tastsinn aus, und er lernte ohne alle Anleitung Körper in Thon und Holz nachbilden. Ein mächtiger Drang trieb ihn, auch das innere Wesen der Dinge, die ihm unter die Hände kamen, zu untersuchen, und so geschah es, daß er zusammengesetzte Gegenstände auseinander nahm, um ihre Theile und deren Zusammensetzung genau kennen zu lernen. Weil seine Umgebungen muthwilliger Zerstörungslust beimaßen, was nur aus mächtigem Forschungstrieb entsprang, so erntete er dafür oft Schläge.

Als er kaum das sechste Jahr erreicht hatte, genügte ihm der spärliche Unterricht der Mutter und Großmutter nicht mehr, und er drängte sich ohne ihr Wissen zur Schule. Ohne von den Lehrern beachtet zu werden, saß er da unter seinen glücklicheren Jugendgenossen und verschlang jedes Wort, das er hörte. So trieb er es eine geraume Zeit; kein Lehrer beschäftigte sich mit ihm, er war gar nicht als ein lernfähiges Wesen angesehen. Und doch lernte er fast mehr, als alle seine Mitschüler. Das zeigte sich, als er anfing, Fragen der Lehrer, worauf Andere die Antwort schuldig blieben, unaufgefordert zu beantworten, auch wohl verständige Fragen an die Lehrer zu richten. Dadurch erregte er deren Aufmerksamkeit, und nun erst beschäftigten sie sich mit ihm. Einer von ihnen, Namens Hirschmann, nahm ihn mit in seine Wohnung und ließ ihm täglich von seiner Frau und Tochter vorlesen. Während Friedrich so sein Gedächtniß bereicherte und schärfte, übte er zu Hause auch die Geschicklichkeit seiner Hände, und er brachte es im Nachbilden von allerhand Gegenständen bald so weit, daß er sich nicht nur sein eigenes Spielzeug, sondern auch dergleichen zum Verkauf fertigen konnte, wodurch er zum Unterhalt des mütterlichen Hausstandes wesentlich mit beitrug. Er schnitzte vornehmlich Gegenstände der Landwirthschaft, als: Wagen, Pflüge, Eggen, Pferde, Ochsen etc. Uebrigens war er auch ein lebhafter Tummler auf dem Spielplan, am liebsten aber sprang er allein über Bäche und Gräben, oder erkletterte hohe Bäume und wiegte sich an ihren Wipfeln. So kräftigte er Körper und Geist und hatte vor manchem sehenden Kinde das Glück einer naturwüchsigen Entfaltung voraus.

Dieses Glück erfuhr aber eine schwere Trübung, als mit der Confirmation seine Schulzeit schloß und, während seine Altersgenossen zu einem bestimmten Lebensberufe übergingen, er sich ausgeschlossen fand von dem allgemeinen Wettlaufe des Lebens. Für ihn, so wollte es das Vorurtheil und die gedankenlose Gewohnheit, gab es kein Streben, keinen Kampf, kein Leben – bloßes Vegetiren. Mit furchtbarer Wucht drückte dieses Loos auf feinen strebsamen Geist und die Geier des Trübsinns nagten an seinem Herzen. Sich ihnen zu entwinden, nahm er seine Zuflucht zur Musik, und wie Alles, was er anfing, trieb er sie mit Eifer und Ausdauer. Ganz allein suchte er den eine Stunde entfernt wohnenden Musiklehrer auf, und kein Unwetter konnte ihn je davon zurückhalten. In kurzer Zeit erlangte er auch eine solche Fertigkeit auf dem erwählten Instrumente, der Clarinette, daß er mit Tanzmusik machen und dadurch sein Brod verdienen konnte. Allein dies konnte seinen auf Höheres angelegten Geist nicht befriedigen, und da er fühlte, daß er zur wahren musikalischen Künstlerschaft keine Anlage besaß, so sehnte er sich nach einem anderen Felde des Lernens und Thuns. Ihn drängte es, sich hineinzustürzen in den Strom des Lebens und sich in ihm als rüstiger Schwimmer zu edlen Zielen zu bewahren; er fühlte sich erfüllt mit Kräften dazu und sollte am Ufer stehen wie ein hülsloses Kind, weil ihn das Herkommen zu einem solchen stempelte. Das ward die Quelle schwerer Gemüthsleiden, die das Schlimmste für ihn befürchten ließen.

Da erstand ihm ein Retter in der Person seines Arztes, Dr. Segel. Dieser erkannte den wahren Grund seines Leidens und daß dieses nicht anders zu heben sei, als durch Befriedigung des innersten Dranges des talentvollen Knaben. Er erweckte die Herzen anderer Menschenfreunde, insbesondere des Ortspfarrers und des Landrichters von Wasserdrüdingen, welche sich für den Leidenden verwendeten, daß er 1839 in die Blindenanstalt zu München aufgenommen ward.

Die Aussicht auf Mittel und Gelegenheit zur höhern Ausbildung seiner Fähigkeiten wirkte neubelebend auf Friedrich. Aber seine neuen Leiter verstanden auch nicht das innerste Leben des neuen Pflegebefohlenen. Da er bereits diejenigen Schulkenntnisse besaß, welche man in der Anstalt als genügend für die Blinden seiner Lebensstellung betrachtete, so ward er schon nach halbjährigem Aufenthalt daselbst aus der Schulabtheilung in die Beschäftigungsabtheilung versetzt, wo er außer in technischen Arbeiten nur in der Musik noch geübt wurde. So lange er hier zu lernen hatte und mit Erfolg lernte, fühlte er sich allenfalls befriedigt, zumal es ihm unverwehrt blieb, von andern Zöglingen, welche die höchste Schulclasse besuchten, sich das Gelernte mittheilen zu lassen, wodurch er es zu seinem Eigenthum machte. Als er aber die schwierigsten Arbeiten, welche in der Anstalt gemacht wurden, mit Leichtigkeit ausführte, als auch von seinen Mitzöglingen nichts mehr zu lernen war, erzeugte der Stillstand, zu dem er sich nun wiederum verurtheilt sah, neues Unbefriedigtsein in ihm. Oft legte er sich mit Schmerzen die Frage vor: Bis hierher und nicht weiter sollst du können? Und sein empörter Geist rief: Nein! nein! und abermals nein! Seine Entwickelung konnte und durfte noch nicht abgeschlossen sein. Indem er nun fühlte, wie Diejenigen, die sie für abgeschlossen erklärten, für das innere Leben der Blinden gar kein rechtes Verständnis hätten, gewann ein Gedanke, der schon früher in ihm gedämmert hatte, immer mehr Bestimmtheit und Stärke – der Gedanke: daß ein Blinder wohl der beste Lehrer für Blinde werden könne.

Die Art und Weise, wie die sehenden Leiter und Lehrer der Blindenanstalt ihr Werk trieben, hatte ihm oft Bedenken erregt; diese Bedenken gestalteten sich jetzt zu entschiedener Berurtheilung, und diese trieb ihn zum Nachdenken über eine bessere Methode der Blindenerziehung, und als er diese gefunden zu haben glaubte, entbrannte er von dem Wunsche, sich selbst zum Blindenlehrer auszubilden. Aber dieser Wunsch fand in der Anstalt keinen Anklang, kein Gehör. Zwar verwendeten ihn die protestantischen Lehrer derselben auf Grund seiner erlangten Kenntnisse als Hülfslehrer, aber es geschah nichts, um ihn weiterzubilden zu dem, was er erstrebte. Er verließ daher im Jahre 1845 die Blindenanstalt und versuchte auf anderm Wege zu seinem Ziele zu gelangen. Kein Fehlschlag konnte ihn entmuthigen, und endlich fand er in München hochgestellte Gönner, die seinen Werth erkannten und ihm hülfreiche Hand boten. Vor Allen war es Professor Hefler, welcher der Bemerkung: „es wäre unrecht, solch ein Talent in seiner Entwickelung nicht zu fördern“, die That auf dem Fuße folgen ließ, indem er

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verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1859, Seite 732. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_732.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2023)