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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

einer wissenschaftlichen Streitfrage einen Beitrag liefern. Man hat neuerdings die alte Seemannssage, daß der Nordpol weit und breit von einem Meer ohne alles Eis umgeben sei, durch Thatsachen begründen und durch Vermuthungen erklären wollen. Die großen offenen Wasserstellen, auf die Penny und Kane im höchsten von ihnen erreichten Norden gestoßen sind, und die allerdings sehr auffallende Wahrnehmung mehrerer arktischer Entdecker, daß bei Winden aus Nord und Nordost, die man sich als die kältesten denken sollte, umgekehrt eine sehr merkliche Verminderung der Kälte eintritt, wonach man schließen könnte, daß jene Luftströmungen über offenem Wasser sich erwärmen – das sind die Thatsachen, auf die man sich beruft. Man hat auch zu sehen geglaubt, daß hohe Eisberge, deren Fuß mithin tief im Wasser steht, gegen den Wind nach Norden ziehen, und hat deshalb das Vorhandensein einer unterseeischen Gegenströmung angenommen. Jene Strömung soll eine Fortsetzung des warmen Golfstroms sein, und weil die Winde aus Nord und Nordost mild sind, hält man sie für die äußerste Spitze des Aequatorialstroms der Luft, die am Pol umbiege. Was M’Clintock an den Eisbergen wahrnahm, bestätigt jene Theorie nicht. Sie zogen nicht mit abweichender Bewegung gegen Norden, sondern trieben mit dem übrigen Eise in derselben, von den Winden abhängigen Richtung.

Sobald M’Clintock von den Eisfeldern frei geworden war, segelte er nach Grönland zurück. Die dänischen Behörden versahen ihn bereitwillig mit frischen Lebensmitteln, doch war es nur wenig, was sie ihm zu liefern vermochten. Am 18. Juni 1858 verließ er die Melville-Bai zum zweiten Male, am 27. Juli ließ er in der Pondsbai der gegenüberliegenden Küste die Anker fallen. Das Dorf Kaprawoktolik, das die Eskimo’s am Nordufer dieser Bucht erbaut haben, hat eine Lage höchst eigenthümlicher Art. Von hohen und steilen Felsen umgeben, kann es nicht einmal mittelst der Schlucht, an deren Mündung seine wenigen Hütten sich ausdehnen, mit dem Innern in Verbindung treten, da ein ungeheuerer Gletscher den Weg versperrt. So bleibt den Bewohnern nichts als das Meer, und dieses ist während des weitgrößten Theiles des Jahres mit Eisschranken verschlossen. Es liefert gleichwohl den Eskimo’s ihren einzigen Lebensunterhalt, denn es beherbergt eine Menge von Walfischen, die mit dem letzten Stück Eis verschwinden. M’Clintock blieb sechs Tage lang bei den freundlichen Leuten und überzeugte sich, daß sie von Franklin nichts wußten. Seit zwanzig, dreißig Jahren hatte kein Schiffbrüchiger den kleinen Fleck Land betreten, auf dem ihre ganze Existenz zwischen Klippenmauern und einem Eismeer verfließt.

Das Eindringen in die Barrowstraße war keinen Schwierigkeilen unterworfen. M’Clintock segelte zunächst nach der Beechey-Insel, um auf dem Platze, wo Franklin seinen ersten Winter verlebt hatte, eine Gedenktafel aufzurichten, die ihm von Lady Franklin zu diesem Zweck übergeben worden war. Nachdem er diese Pflicht der Pietät erfüllt hatte, untersuchte er die Vorräthe und die Boote, die von früheren Schiffen auf der Beechey-Insel und im Leopolds-Hafen zurückgelassen worden sind, und fand sie im besten Zustand. Wie leicht konnte davon seine Rettung abhängen, wenn er sein Schiff verlassen mußte!

Die Land- und Küstenbildung der Gegenden, denen er nun zusteuerte, läßt sich auch ohne Karte leicht veranschaulichen. Im Süden der zusammenhängenden Wasserstraße von Osten gegen Westen, die von dem Lancaster-Sunde, der Barrow-Straße, dem Melville-Sunde und der Banks-Straße gebildet wird, laufen zwei nebeneinanderliegende Inseln, Nordsomerset im Osten, Prinz-Wales-Land im Westen, von Norden gegen Süden. Zwischen beiden findet der Schiffer einen Canal, Peels-Sund genannt, der durch die Bellot-Straße mit der Prinz-Regents-Einfahrt, welche die Ostküste von Nordsomerset begrenzt, in Verbindung gebracht wird. Im Süden der Bellotstraße beginnt das Festland mit einer weit vorspringenden Halbinsel, der man den Namen Boothia Felix gegeben hat. Im Süden des Prinz-Wales-Landes besteht noch ein größerer Raum aus einem Meer, in dem die Insel König-Wilhelms-Land liegt. Sie erstreckt sich bis in die Nähe von Boothia Felix und wird vom Festlande durch eine schmale, nach dem Entdecker Simpson benannte Meerenge getrennt. Das Festland springt auch hier mit einer, jedoch kleineren Halbinsel (Adelaide) vor. In den Einschnitt, der Adelaide und Boothia von einander trennt, mündet der Große Fischfluß oder Backs Ostfluß, unter welchem letzteren Namen er auf einigen Karten eingetragen ist.

Aus dieser hoffentlich anschaulichen Beschreibung ergibt sich, daß M’Clintock zwei Wege nach dem König-Wilhelms-Lande, wo die Vermißten ihren Todeskampf gekämpft haben, benutzen konnte. Er hatte die Wahl zwischen der Prinz-Regents-Einfahrt, aus der er durch die Bellotstraße gegen Westen zu gelangen vermochte, und zwischen dem Peels-Sunde. Er gab dem letztern den Vorzug, mußte jedoch nach etwa fünf deutschen Meilen vor einer festen Eisschranke umkehren. Er wendete sich jetzt nothgedrungen zur Prinz-Regents-Einfahrt und war so glücklich, bis zur Bellot-Straße vordringen zu können. Auch diese war frei, und schon glaubte M’Clintock in das jenseitige Meer ohne Anstand einlaufen zu können, als er sich am westlichen Ende der Bellot-Straße wieder vor einer Eismasse sah. Diese von zahlreichen Inselchen festgehaltene, nicht viel über eine halbe deutsche Meile breite Mauer widerstand der Gewalt der Herbststürme, welche das westliche Meer reinfegten. „Es war eine Tantalusqual, die jeder Beschreibung spottet,“ sagt M’Clintock in seinem Bericht, „daß wir Tag für Tag jenes offene Wasser, nach dem wir uns so sehr sehnten, vor Augen hatten, wie es nur eine Stunde westlich von uns die Felsen bespülte, und doch unsere gänzliche Ohnmacht fühlten, die trennende Schranke zu durchbrechen.“

So lange man noch Tageslicht hatte, ließ M’Clintock einen seiner Officiere, Lieutenant Hobson, Wanderungen auf Boothia Felix machen. Der Zweck, der dabei verfolgt wurde, an geeigneten Stellen Vorräthe niederzulegen, die später von den mit Schlitten abgehenden Mannschaften benutzt werden könnten, wurde unvollständig erreicht, da die überaus rauhe Oberfläche des Landes zu große Hindernisse entgegenstellte. Hobson gerieth in manche Gefahr, in die größte in dem Augenblicke, als eine Eismasse, auf der er sich befand, in Bewegung gerieth und in’s Meer hinaussteuerte. Im November wurden diese Wanderungen eingestellt. Der Fox lag jetzt gut geschützt in einer Bucht der Bellot-Straße, neben der Granitfelsen bis zu einer Höhe von 1600 Fuß emporsteigen.

Bei den Schrecken eines arktischen Winterlagers wollen wir nicht verweilen. Fast drei Monate lang zeigt sich die Sonne nicht auf eine Minute über dem Horizont, und lassen auch der Mond, das Schneeblinken und die Nordlichter selten eine tiefe Dunkelheit eintreten, so hat doch das falbe Dämmerlicht, das in der Regel herrscht, etwas unnennbar Trauriges. Nach und nach nimmt die Kälte zu, bis das Thermometer auf 42 und 43° Reaumur unter Null fällt. Man schützt nun die innern Räume des Schiffs auf jede erdenkbare Weise und beschäftigt die Seeleute zu gleicher Zeit, so oft es gehen will, im Freien, damit sie der frischen Luft nicht ganz entbehren und in dem Grabesschweigen der langen, langen Nacht nicht in Trübsinn verfallen. Erscheint endlich die Sonne am Saume der Eiswüste auf Augenblicke wieder, so begrüßt man sie mit Jubel, und die Abnahme der Kälte bis zu einem Grade, der die Straßen unserer Städte menschenleer machen würde, ist für Jedermann eine froh empfundene Erleichterung.

Die Jagden, die M’Clintock während der elf Monate seines Aufenthaltes in der Straße veranstaltete, um dem Scorbut durch frisches Fleisch zu wehren, gaben eine sehr geringe Ausbeute: drei Rennthiere, zwei Bären, achtzehn Seehunde und einige Schneehühner und Wasservögel. Am 17. Februar 1859 wurden die Ausflüge mit Hundeschlitten wieder aufgenommen. M’Clintock, der Führer der einen Abtheilung – die zweite, resultatlose befehligte Capitain Young - blieb bei einer Kälte, die das Quecksilber zum Gefrieren brachte, fünfundzwanzig Tage vom Schiffe entfernt. Er traf mit Eskimo’s zusammen, die ihm bereitwillig eine Schneehütte bauten und ihm Reliquien vom Erebus und Terror übergaben. Sie erzählten, daß vor verschiedenen Jahren ein Schiff an der Westküste des König-Wilhelms-Landes vom Eise zertrümmert wurde und sank. Die Weißen erreichten glücklich das Land und wanderten zu einem großen Flusse, wo alle starben. Andere Eskimo’s wußten von einem zweiten Schiffe, das in derselben Zeit an die Küste trieb und von dem sie sich mit einer Menge Holz und Eisen versehen hatten. Vom October bis zum Juni wohnen diese ärmsten aller Erdenbewohner in Schneehütten auf dem Eise und leben dann blos von Seehunden, zu denen gelegentlich ein Bär kommt. Juli, August und September sind ihre glücklichen Monate, denn in dieser Zeit finden sie in und an den Flüssen des Festlandes Fische, Rennthiere und Geflügel.

Zwei Reisen, die M’Clintock und Hobson in den ersten Maitagen gleichzeitig ausführten, brachten die vollste und traurigste

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_023.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)