Seite:Die Gartenlaube (1860) 400.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

selbst verstände, und rühmt sich, wahre Wundercuren damit verrichtet zu haben. Es gibt sicher noch Thoren genug, die in gläubigem Vertrauen an ihre Unfehlbarkeit diese dreißigsten Potenzen nach Vorschrift beriechen. Wie wenige Menschen aber mögen sich wohl die Mühe genommen haben, über die Frage: „Was ist ein Decillionentheil?“ oder: „Was ist eine Decillion?“ ernstlich nachzudenken. Laßt uns nun sehen, ob es möglich ist, uns die Größe einer Decillion (d. i. in Ziffern geschrieben eine 1 mit 60 Nullen) zur Vorstellung zu bringen.

Wir wollen als Einheit einen kleinen allgemein bekannten Gegenstand, etwa ein Sandkorn, zu Grunde legen. Es soll nun unsere Aufgabe sein, einen Raum zu finden, der eine Decillion Sandkörner zu fassen im Stande ist. Nehmen wir an, daß eine Reihe von hundert dicht aneinander gelegten Sandkörnern einen Zoll lang sei. Auf etwas mehr oder weniger wird es hierbei, wie wir später sehen werden, nicht ankommen. Demnach würde ein Quadratzoll zehntausend, ein Kubikzoll aber eine Million Sandkörner enthalten. „Ah!“ hören wir bemerken, „da haben wir ja mit leichter Mühe schon sechs von unseren sechzig Nullen bei Seite geschafft!“ Aber wir bitten die Sanguiniker, welche diese Bemerkung machten, sich noch ein wenig zu gedulden, und gehen weiter. Ein Kubikfuß enthält 1728 Kubikzoll, würde also 1728 Millionen Sandkörner in sich aufnehmen können. Eine Kubikmeile, die Meile rund zu 24,000 Fuß gerechnet, enthält 13 Billionen und 824 Tausend Millionen Kubikfuß, und würde Raum für nahezu 23,888 Trillionen Sandkörner bieten.

Für unsere Decillion verschlägt dies noch gar wenig; wir müssen uns daher nach einem weit größeren Raume umsehen. Unsere Erdkugel hat 2659 Millionen Kubikmeilen Körperinhalt. Sie würde, wenn ihre ganze Masse aus Sand bestände, 631/2 Quintillionen Sandkörner enthalten.

Die Sache fängt an, bedenklich zu werden. Je größer die Räume sind, die wir mit Sand füllen, desto langsamer scheinen wir in unserer Decillion vorzuschreiten. In dem größten Raume, den wir auf Erden kennen, in unserer Erdkugel selbst, haben wir erst die Hälfte der sechzig Nullen unterbringen können, die zu einer Decillion gehören, und wir haben damit so wenig gewonnen, daß vielmehr 27,000 Quadrillionen Erden vorhanden sein müßten, um unsere Decillion Sandkörner zu fassen.

Wo finden wir denn aber Raum für diese überirdische Größe? Natürlich müssen wir ihn außerhalb unserer Erde suchen. Es gibt viele Himmelskörper, die an Größe unseren Erdball weit übertreffen. Die Sonne z. B. ist vierzehnhunderttausendmal größer, als die Erde. Nach den bisher gewonnenen Resultaten wollen wir uns aber nicht bei ihr aufhalten. Wir wollen vielmehr mit Hülfe unserer Phantasie gleich einen unendlich viel größeren Raum schaffen.

Die Sonne ist von unserer Erde 20,300,000 Meilen entfernt. Eine Kanonenkugel, die 600 Fuß in der Secunde durchläuft, würde, mit gleicher Geschwindigkeit unaufgehalten sich fortbewegend, die Sonne von hier aus in 252/3 Jahren erreichen. Diese Entfernung nun wollen wir uns als den Halbmesser einer ungeheuren Kugel denken. Der Umfang dieser Kugel würde 1271/2 Millionen Meilen, ihre Oberfläche 51781/2 Billionen Quadratmeilen groß sein. Ihr körperlicher Inhalt würde über 35,041 Trillionen Kubikmeilen betragen. Mit Sand gefüllt, würde sie 807 Septillionen Sandkörner in sich aufnehmen können!

Aber ein wie unendlich kleiner Theil einer Decillion ist dies! Vorwärts also auf den Flügeln unserer Phantasie, wenn auch unser Vorstellungsvermögen längst schon zurückgeblieben ist! Laßt uns mit kühnem Flug uns an die äußersten Grenzen unseres Sonnensystems wagen.

Einer der äußersten Vorposten unseren großen Sonnenreichs ist der Uranus. Seine Entfernung von der Sonne beträgt 400 Millionen Meilen. Unsere Kanonenkugel, nachdem sie sich auf der Sonne ausgeruht, wird, dort wieder eingeladen, auf den Uranus gerichtet und abgeschossen. Durch nichts in ihrer Geschwindigkeit aufgehalten, erreicht sie diesen Planeten in – 500 Jahren! Nun wollen wir uns die Entfernung des Uranus von der Sonne als den Halbmesser einer das ganze Sonnenreich umschließenden Kugel denken, deren Umfang demnach aus 25131/2 Millionen Meilen, ihre Oberfläche auf 2 Trillionen Quadratmeilen, und ihr körperlicher Inhalt auf 268 Quadrillionen Kubikmeilen sich berechnen ließe. Die Zahl der Sandkörner, welche diese Kugel – unser großes Sonnenreich – in sich aufnehmen könnte, würde 62/3 Octillionen betragen.

Das ist nun wiederum nur ein winzig kleiner Theil einer Decillion. Denn 156 Tausend Millionen Sonnensysteme müßten da sein, um Raum genug für eine Decillion kleiner Sandkörnchen zu bieten. Hundert sechs und fünfzig tausend Millionen Sonnenreiche! Da hört denn doch alle menschliche Vorstellungskraft auf! Wie viel ist das, 156 Tausend Millionen? Um eine solche Anzahl winzig kleiner Sandkörnlein unterzubringen, ist ein Raum von 90 Kubikfuß erforderlich, etwa eine Kiste, die 5 Fuß lang, 41/2 Fuß breit und 4 Fuß hoch wäre! Und nun eben so viele Sonnenreiche, als Sandkörner in jener Kiste Platz finden, und diese alle mit Sand angefüllt!

Wir wollen unsere Leser nicht mit einer Weiterführung dieser Berechnung ermüden. Es sei uns gestattet, nur kurz zu bemerken, daß wir, in unserem Sonnensystem für eine Decillion nicht Raum genug findend, an Sonnen anderer Welten uns hinangewagt haben. Aus der Entfernung des prachtvollen Fixsterns Sirius, die nach Bradley und Lambert nicht unter 400,000 Erdenweiten angenommen werden darf (Erdenweite: d. i. die Entfernung der Erde von der Sonne), und den unsere Kanonenkugel erst nach 101/2 Millionen Jahren erreichen würde – aus dieser Entfernung haben wir den Halbmesser einer Kugel gebildet, und in ihr doch nur 508,814 Nonillionen Sandkörner unterzubringen vermocht, eine Zahl, die ungefähr der Hälfte einer Decillion gleich kommt.

Wie schwindelt’s dem menschlichen Verstande vor solchen Größen! Und wie viel weniger vermag die menschliche Vorstellungskraft sich ihnen entsprechende Kleinheiten zu denken! – einen Decilliontheil eines Tropfens! Mag immerhin die Logik das Vorhandensein eines Decilliontheils eines Tropfens beweisen – beweist sie doch auch, daß der schnellfüßige Achill eine Schildkröte im Laufe einzuholen nimmer im Stande ist – wer aber dürfte sich erkühnen, in einem Decilliontheil, einem Quintilliontheil, ja in einem Billiontheil eines kleinen Tropfens nach menschlichem Begriffsvermögen überall nur ein Etwas sich denken zu wollen? Sind denn die Homöopathen der unendlichen Kleinheit – des Nichts – dieser Größen sich bewußt? Wahrlich, dann ist die Vermessenheit groß, mit der sie alle die täuschen, die sich ihnen vertrauensvoll nahen. Haben sie aber, wie es wahrscheinlich ist, keine Ahnung von der Ungeheuerlichkeit dieser Größen oder Kleinheiten, dann muß uns die Gedankenlosigkeit in Erstaunen setzen, die sie bei Ausübung eines der edelsten Berufe des Menschen an den Tag legen.

E. A.


Aus den Memoiren eines Stenographen. In dem denkwürdigen Jahre 1848 war ich Reichstags-Stenograph. Dieses Jahr war für die Stenographie wohl ein gesegnetes zu nennen, Ueberall Parlamente, Landtage, Vorbesprechungen zu Wahlen, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Gerichtsverfahrenn etc., kurzum, wohin man blicken mochte, das Bedürfniß nach Stenographen.

Ich pflegte die mir nöthige Erholung von den Strapazen des Reichstagslebens oft in dem Hause eines Fabrikanten zu finden, welchen ich aufsuchte, wenn ich fern von Politik mich den Vergnügungen eines gemüthlichen[WS 1] Familienlebens und dem erquicklichen Verkehr mit guten Bekannten hingeben wollte. Der Herr des Hauses war gebildet und reich, und verstand es mit seltenem Geschick, die Zufriedenheit und das Wohlbehagen, die in seiner Familie heimisch waren, auch auf seine Gäste zu übertragen. Er war glücklich in seinen Kindern. Er besaß einen Sohn und drei anmuthige Töchter. Letzterer Umstand mag wohl einer der Hauptanziehungspunkte für die jüngeren Besucher seines Hauses gewesen sein. Zu den fleißigsten Besuchern desselben zählte ein junger Literat. Er war ein äußerst liebenswürdiger Mensch, hatte aber einen großen Fehler: er machte über alles Mögliche Gedichte, welche aber eben nicht an Gedankenreichthum litten, und deren Form meistens nur mittelmäßig war. Dabei war er aber so sehr von der Vortrefflichkeit seiner Reimereien überzeugt und daneben von Mutter Natur mit einer solchen Dosis Eitelkeit begabt, daß er seine poetischen Erzeugnisse bei jeder Gelegenheit und jedem, der ihn anhören wollte, oder vielmehr jedem, den er überhaupt erfassen konnte, vortrug. Dadurch war er nun wirklich der Schrecken unserer Gesellschaft geworden, und es war ganz natürlich, daß man allgemein den Wunsch hegte, den sonst recht schätzenswerthen jungen Mann von seiner Manie zu heilen. Nach langem Hin- und Hersinnen glaubte man endlich ein Mittel hierzu gefunden zu haben und benützte die erste Gelegenheit, die sich darbot, um es auszuführen.

Es war am 2. September. Man feierte den 20. Geburtstag der hübschesten unter den drei jungen Damen des Hauses. Wir wußten alle, daß unser Held uns bei dieser Gelegenheit ganz gewiß mit einer neuen Schöpfung seiner aufgeregten Phantasie bekannt machen würde; und darauf war unser Plan berechnet. Wir hatten uns nicht getäuscht. Die Gesellschaft war bereits versammelt, ich aber war nicht zugegen, als unser Dichter eintrat. Er setzte sich alsbald in die gehörige Positur und declamirte ein von ihm eigens für diesen Abend verfaßtes Gedicht. Ein aufmerksamer Beobachter hätte aus allen Gesichtern ein bedeutsames halb unterdrücktes Lächeln bemerken können. Als er geendet hatte, sprach ihm die gefeierte Dame des Hauses ihren Dank aus. „Wirklich ein recht artiges Gedicht; es hat mir schon gefallen, als unser Freund Eberhard (das war ich) es mir vor einigen Tagen vorlas.“

Diese wenigen Worte übten eine merkwürdige Wirkung auf unsern jungen Mann. Er hatte ja gerade vorher sein Gedicht ausdrücklich für eine Originalarbeit erklärt; er war sich auch wirklich vollkommen bewußt, in diesem Falle kein Plagiat begangen zu haben; – nun mußte ihn die ganze Gesellschaft für einen Abschreiber halten. Das würde auch einen minder Eiteln als ihn sehr unangenehm berührt haben. Andrerseits aber konnte er es wirklich nicht für möglich halten, daß zwei Personen, die mit einander in keiner Verbindung stehen, dieselben Gedanken haben, noch weniger aber sie in dieselben Worte kleiden würden, noch dazu in einem langen Gedicht.

Diese und ähnliche Gedanken stürmten auf ihn ein und machten ihn beinahe sprachlos. Als er sich etwas gesammelt hatte und nun nähere Aufschlüsse verlangte, wußte ihm die Dame geschickt auszuweichen und das Gespräch auf andere Gegenstände zu lenken. – In diesem Augenblick trat ich ein. „Welches Gedicht haben Sie vor einigen Tagen dem Fräulein vorgelesen?“ Mit dieser Frage stürzte der Aufgeregte auf mich zu. Ich stellte mich, als wüßte ich gar nicht, um was es sich handelte, und forderte ihn auf, mir die Sache zu erklären. Ich hörte ihn einige Zeit an, zog endlich meine Brieftasche hervor, nahm nach einigem Herumsuchen ein beschriebenes Blättchen Papier heraus und fing an, den Inhalt desselben mit vielem Pathos zu declamiren. – Es war sein Gedicht, Wort für Wort.

Für einen Psychologen müßte das Mienenspiel, mit welchem unser Dichter meinen Vortrag begleitete, höchst interessant gewesen sein. Seine Aufregung wuchs derart, daß er einer Ohnmacht nahe war, und lange Zeit ging er umher wie ein Irrsinniger. Aber das Mittel hat geholfen. Seit diesem Abend nahm unser Dichter an unserer Unterhaltung nur in strengster Prosa Theil, und niemals mehr hörten wir ihn in unserm Kreise ein Gedicht vortragen. Erst später gaben wir ihm die Erklärung, daß ich mich während der Zeit, als er sein Gedicht vortrug, im Nebenzimmer befand und Satz für Satz seiner Declamation stenographisch niederschrieb.



Nicht zu übersehen!

Mit Nr. 26 schließt das zweite Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Ernst Keil.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: gemüthlilichen
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 400. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_400.jpg&oldid=- (Version vom 12.6.2022)