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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

„Kennen Sie ihn?“ wiederholte ich.

„Ja,“ stöhnte er hervor.

„Auch seine Schwester?“

Es war, als wenn der Tod ihm an das Herz trete. Er mußte sich auf einen Stuhl niederlassen.

„Ja,“ zitterte es dann über seine bleichen Lippen.

Meine Ahnung war gerechtfertigt; ich kannte das Motiv seines bisherigen Leugnens, warum er selbst unter dem Verdachte, unter der Beschuldigung des schwersten Verbrechens stehen und den wahren Verbrecher nicht verrathen wollte. Sollte die Kenntniß des Motivs mich zu weiteren Entdeckungen führen?

„Wo hatten Sie das Fräulein kennen gelernt?“ fragte ich ihn weiter.

Er hatte sich wieder etwas gesammelt und sann nach, ob er, wie früher, meinen Fragen ein Schweigen entgegensetzen solle.

„Bedenken Sie,“ ermahnte ich ihn, „daß ich Sie hier nach einem Umstande frage, der jeden Augenblick durch Nachfrage an dem Orte, wo das Fräulein war, festgestellt werden kann.“

Er überzeugte sich und nannte einen deutschen Handelsplatz, an dem er früher Commis gewesen war.

„Wie lernten Sie sie kennen?“

„Sie lebte dort bei einer Verwandten.“

„Standen Sie in näherer Beziehung zu ihr?“

Er mußte sich lange besinnen, ob er auch darauf antworten solle.

„Wir liebten uns,“ sagte er dann leise und erröthend.

Die Antwort konnte mich nicht überraschen.

„Wann war das?“

„Vor etwa fünf Jahren.“

„Mußten Sie sich von ihr trennen?“

„Ihr Bruder holte sie ab. Er wollte nie eine Verbindung zwischen uns zugeben, wegen der Standesverschiedenheit.“

„Haben Sie sie seitdem wiedergesehen?“

„Zu jener Zeit nicht; sie war auf dem Schlosse Diburg wie eine Gefangene gehalten.“

„Sie waren also dort?“

„Ich suchte vergebens in das Schloß zu kommen; ihr Bruder drohte mich zu erschießen, wenn er mich treffe. So hatte er auch seinem Jäger befohlen.“

„Trauten Sie ihm eine Verwirklichung seiner Drohung zu?“

„Ich mußte es nach seinem heftigen und gewaltthätigen Charakter.“

„Sie haben sich jetzt wieder in der Gegend aufgehalten und wollten mir bisher Ihren Zweck nicht angeben?“

„Ich kann es nun. Der eigentliche Grund meiner Auswanderung nach Amerika war, mir schnell ein Vermögen zu erwerben, um dann dennoch Sophien von Lengnau meine Hand anbieten zu können. Ich eilte nach meiner Rückkehr zu ihr. Da war auch ihr Bruder nach langer Abwesenheit zurückgekommen und brachte seinen ganzen unbeugsamen Familienstolz mit. Sophie liebte mich noch. Ich suchte sie zu einer Flucht mit mir zu bereden. Darüber wurde ich verhaftet.“

„Wo haben Sie zuerst den Freiherrn kennen gelernt?“

„Schon in jener Handelsstadt, als er die Schwester abholte.“

„Haben Sie ihn seitdem oft wiedergesehen?“

„Bei meinen Versuchen, Sophie in Diburg zu sprechen.“

„Außerdem nicht?“

„Nein,“ antwortete er, aber wieder mit jenen untrüglichen Zeichen, daß er die Unwahrheit spreche. Sie waren für mich ein neuer Beweis für die Schuld des Freiherrn. Ich sagte ihm das, und er schwieg; aber sein Blick sagte mir desto deutlicher, warum er schwieg, warum er schweigen mußte, konnte er den Bruder der Geliebten unter das Beil des Henkers liefern? Das war das Räthsel seines ganzen Benehmens und der Schlüssel der Auflösung. – Ich hatte Grund und Pflicht zu jedem Einschreiten auf Schloß Diburg und reiste dahin ab. Es war am zweiten Tage nach der Flucht der Hein. Der Gensd’arm war mit seinen Nachrichten erst gegen Mittag des Tages zurückgekommen, und erst nach Mittag konnte ich abreisen. Das Schloß Diburg war an sechs Meilen entfernt. Der Weg ging durch das Gebirge und war schlecht. Vor dem späten Abend konnte ich das Schloß nicht erreichen; freilich auch nur bei Nacht durfte ich dort ankommen, wenn ich einen Erfolg erzielen wollte.

Waren der Freiherr und die Hein noch da, so mußte ich schon mitten im Schlosse sein, ehe sie nur den Versuch machen konnten, durch den geheimen Ausgang des Schlosses zu entfliehen. Daß sie noch da seien, davon mußte ich ausgehen. Es war auch Wahrscheinlichkeit vorhanden. Der Freiherr wußte durch die Hein, daß in der Untersuchung bisher nicht einmal sein Name genannt war. Die Hein mußte in den ersten Tagen nach ihrer Flucht auf allen Wegen Steckbriefe und Gensd’armen in ihrer Verfolgung wissen.

Es war längst dunkler Abend, als ich unter Führung des Gensd’armen an einem einzelnen Hause anlangte, das noch etwa eine halbe Meile von Diburg entfernt lag. Es lag schon in dem jenseitigen Kreise. Ein ehemaliger Schulze wohnte darin, ein zuverlässiger, mit allen Persönlichkeiten und Verhältnissen der Gegend vertrauter Mann, ein alter Bekannter des Gensd’armen. Er sollte die noch erforderliche Auskunft geben; bei ihm und mit ihm sollte das Weitere berathen werden. Ich war auf Umwegen hingefahren, und die Gensd’armen und Executoren, die ich noch mitgenommen, hatten auf anderen Wegen hinreiten müssen, alle so einzeln und still und verborgen wie möglich, alle bewaffnet, aber nicht in Uniform.

Bei dem alten Schulze, welchen wir zu Hause antrafen, kamen wir zusammen. Er war ein erfahrener und kluger, schon bejahrter, aber noch außerordentlich rüstiger und kräftiger Mann. Er hatte früher als Schulze sich für Alles interessirt und mußte jetzt noch Alles wissen. Mit ihm beriethen wir, aber er stellte meine Aufgabe fast als verzweiflungsvoll dar.

Das Schloß Diburg hing wie ein Krähennest an einem steilen Bergabhange und war nach allen Seiten mit Mauern umgeben; selbst durch eine Belagerung war es nur von einer Seite zu nehmen, und während es dort genommen wurde, gingen die Belagerten von der anderen Seite ruhig und sicher an dem jähen Abgrunde auf verdeckten Schleichwegen hinunter, die nur ihnen bekannt und nur ihnen nicht gefährlich waren. Dazu die Persönlichkeit des Besitzers. Er war schon vor seiner Auswanderung in der ganzen Gegend als einer der verwegensten und gewaltthätigsten Menschen gefürchtet. Es steckte der echte, nichts achtende und nichts schonende Raubritter des Mittelalters in ihm. Seit seiner Rückkehr sollte er noch wilder und unbändiger geworden sein; er hätte zugleich den rohesten Uebermuth des Geldes mitgebracht. In Schloß Diburg hatte er seine alten Genossen um sich versammelt, den Auswurf der unteren Stände der Gegend: verkommene Jäger, bestrafte Wilddiebe, verliederlichte Bauerbursche. Mit ihnen führte er ein Leben, so roh und gemein, wie die Menschen selbst, mit denen er es führte. Wie sie mit ihm roh und gemein waren, so waren sie auch mit ihm verwegen und gewaltthätig. Große Hunde dienten ihnen zur Jagd, zu ihren rohen Späßen, zur Sicherheit. War jetzt die entflohene Hein da, war sie die Genossin des Freiherrn, so war die wüste Gesellschaft des Schlosses nicht nur möglichst auf der Hut vor einem Ueberfalle, sie mußte auch immer bereit sein, ihren Herrn und Meister gegen jeden Angriff auf das Aeußerste zu vertheidigen. Daß die Hein angekommen sei, davon wußte der alte Schulze nichts. Nach der Schwester des Freiherrn mußte ich noch fragen.

Der alte Mann schüttelte traurig den Kopf. „O, das ist eine unglückliche Geschichte. Das Fräulein ist ein Engel mitten in der Höllenwirthschaft da. Sie hat nur noch eine Hoffnung, daß der Himmel sie bald erlösen werde, Sie hatte sich vor vielen Jahren mit einem braven jungen Manne verlobt; aber er war ein Bürgerlicher, und der Freiherr wollte die Verbindung nicht zugeben. Sie fürchtete den Zorn des Bruders und unterwarf sich seinem Willen. Seitdem zehrt sie da oben ab, still und leidend, und ohne andere Hoffnung, als auf den Himmel.“

Bruder und Schwester waren die letzten Sprossen des alten und einst stolzen und mächtigen freiherrlichen Geschlechts von Lengnau auf Schloß Diburg.

„Ist Dienerschaft im Schlosse?“ erkundigte ich mich noch.

„Das Fräulein lebte früher mit einer alten Magd da. Ob der Bruder sie als Zeugin seines wüsten Treibens da gelassen hat, weiß ich nicht. Ein alter Diener ist sicher geblieben,“ antwortete mir der Schulze.

„Woher entnehmen Sie diese Sicherheit?“

„Der Mann ist ein altes Familienstück des Hauses; er ist uralt und war schon ein Greis, als ich noch ein Knabe war. Er ist der einzige ehrliche Mann im Schlosse. Der Freiherr haßt ihn, weil er ehrlich ist und ihn von früh her zum Bessern ermahnt hat, aber ihn aus dem Schlosse zu werfen, hat er nie gewagt. Er ist der Schutzengel des armen Fräuleins.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 402. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_402.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)