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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

einseitige Gefühl der Kälte die Richtung des Winden zu erfahren; Erik rupfte Rennthiermoos aus und warf kleine Flocken davon in die Höhe, welche der Wind dann mit sich trieb. Hierauf machten wir uns auf den Weg, suchten, tief gebückt dahin gehend, den Thieren so bald als möglich aus dem Gesicht und der Witterung zu kommen und begannen unter dem Winde an sie heranzuschleichen. Plötzlich blieb der Alte stehen, warf von Neuem Moos empor, fluchte und sagte: „Wir werden diesmal kein Thier mehr zu sehen bekommen; der Wind hat sich gedreht!“ Es war wie er sagte: ein unregelmäßiger Windstoß hatte uns getäuscht. Und wirklich hatten die scheuen Thiere bereits Witterung bekommen; denn als wir auf großen Umwegen und nun richtig unter dem Winde zur Stelle kamen, war diese leer und von den sieben Rennthieren keine Spur mehr zu bemerken.

„So wollt’ ich doch gleich, daß der Sneehätten einfiele!“ knurrte Erik höchst verdrießlich; doch tröstete er sich und mich rasch genug durch die Versicherung, daß das ganze Fjeld voller Rennthiere sei. Wir schritten also weiter, besuchten noch fünf „gute Stätten“, erstiegen noch zwei hohe Berge, fanden andere Fährten und abgeäßte Pflanzen – sahen aber keine Rennthiere. Die Wanderung hatte nunmehr bereits sieben Stunden gewährt, und wir Beide waren müde.

„Es wird Zeit, Alter, daß wir uns nach einer Nachtherberge umsehen!“

„Gut, wir können zu dem nächsten „Säter“ (Sennhütte) gehen, wenn es Ihm beliebt!“

„Wie weit ist dieser wohl von hier?“

„Etwa eine halbe (norwegische) Meile.“

Wenn dies richtig gemessen war, hatten wir also noch 9000 Ellen abzuschreiten. Erik hatte die Entfernung aber unterschätzt, und so wanderten wir denn noch anderthalb Stunden lang fort, ehe wir den „Säter“ erblickten. Und wo lag er?! Vor uns that sich ein echtes Alpenthal auf, von steilen, schroffen Wänden eingefaßt, grün und freundlich heraufschimmernd wie eine Oase aus dem Sande der Wüste. Brausende und schäumende Waldbäche stürzten sich frohlockend hinab in die Tiefe und sammelten sich dort zu einem Flüßchen, welches mit jeder Viertelmeile neuen Zulauf und Zuwachs erhielt. Blendend glänzte und leuchtete es zu uns herauf, recht einladend tönte sein Rauschen in unser Ohr; mir aber ging es wie Eulenspiegel: ich trauerte über die tausend Fuß, welche wir hinabsteigen sollten, weil ich sehr lebhaft daran gedachte, welchen Schweiß es kosten würde, morgen dieselbe Höhe, auf welcher wir standen, wieder zu gewinnen. Allein der knurrende Magen und die müden Glieder verlangten ihr Recht; und so kletterten wir denn, so gut oder so schlecht als es gehen wollte, zur Tiefe nieder, hatten, Dank einigen etwas unwillkürlichen Eilmärschen und Eilfahrten ohne Fußbewegung, nach drei Viertelstunden die Thalsohle erreicht und befanden uns unmittelbar vor dem Säter.

Ich würde nun sehr gern von unserer sehr merkwürdigen Nachtherberge und ihren Bewohnern berichten – und dies würde auch unbedingt zum Jagdbilde gehören – allein der mir gemessene Raum verbietet dies. So kann ich eben nur sagen, daß wir aßen, tranken, schliefen und am andern Morgen wieder die Höhe hinaufstiegen.

Nach zweistündigem Steigen waren wir wieder in unseren Jagdgründen angekommen und begannen unsere Suche von Neuem. Aber eine Viertelmeile nach der andern mußte abgeschritten, ein Berg nach dem andern erstiegen werden, ehe wir wieder Spuren unseres Wildes auffanden. Doch schien es, als sollten wir diesmal für unsere Ausdauer belohnt werden. Von einem Hügel aus blickten wir forschend über eine vor uns liegende Thalmulde hin – und siehe da! – am anderen Rande äßte sich behaglich ein ganzes, starkes Rudel Rennthiere! Mit Winken und Zeichen theilte ich Erik die erfreuliche Entdeckung mit, und wieder sank er feierlich in sich zusammen, prüfte den Wind, entledigte sich seines Ranzens und alles unnöthigen Gepäckes und begann nun auf dem Bauche fortzukriechen. Ich folgte ihm in derselben Weise und gelangte mit ihm zu einigen Steinen, hinter denen wir uns verbergen konnten. Von dort aus beobachteten wir das Rudel und das Jagdgebiet sorgfältig, ehe wir unsere Kriecherei fortsetzten. Es war ein prachtvolles Schauspiel, welches das Rudel mir bot, und ich brachte das Fernrohr gar nicht vom Auge, um mir keine Bewegung der edlen Thiere eingehen zu lassen. Achtzehn Stück des schönen Wildes hatten sich zusammengerudelt. Einige äßten sich, andere hatten sich niedergethan, andere gingen scheinbar unbeschäftigt auf und nieder. Mit einem Male aber kam Leben und Schrecken über Alle. Sie stoben fort und jagten trottend durch Sumpf und Moor hindurch gerade auf uns los. Eine fieberhafte Spannung hatte sich unser bemächtigt, ließ aber nur zu schnell nach, als wir bemerkten, daß sie halbwegs stehen blieben, sich wieder sammelten und von Neuem sich zu äßen begannen. Mir war die Warnung, welche sie erhalten haben mußten, ganz unbegreiflich, und ich forschte lange vergeblich nach der Ursache derselben. Von uns konnten sie keine Witterung bekommen haben, denn wir lagen unter dem Winde; – woher war also der plötzliche Schrecken gekommen?

Endlich entdeckte ich die Ursache. Noch ein Jäger war in unser Gebiet eingedrungen, und ihm also verdankten wir die ärgerliche Störung. Ich bemerkte den zudringlichen Gesellen zuerst und hätte große Lust gehabt, ihm eine Kugel zuzusenden, wäre er nur näher gewesen. Allein er hielt sich zu seinem Glücke außer aller Schußweite und hockte ruhig hinter einem Steine, das Rudel mit derselben Spannung und Theilnahme betrachtend wie wir. Von uns schien er gar keine Ahnung zu haben; er jagte also ganz auf eigne Hand. Ich betrachtete ihn sehr aufmerksam und glaubte schon einen ebenbürtigen Gegner in ihm zu entdecken, mit welchem ich recht sehr gern einen ehrlichen und ehrenwerthen Strauß ausgefochten hätte, als mich eine Bewegung, welche er machte, über meinen Irrthum belehrte. Anstatt eines Bären, wie ich gehofft, hatte ich es nämlich blos mit einem Vielfraß zu thun. Das Thier war so groß, wie ich es früher nirgends gesehen hatte, und im Sitzen dem wehrhaftem Freund Petz täuschend ähnlich. Bei seiner ersten Bewegung aber konnte er nicht mehr verkannt werden. Sein Gang ist nämlich so ausgeprägt und merkwürdig, wie bei keinem andern mir bekannten Säugerthier. Der Vielfraß läuft mit sehr stark bogenförmigen Sätzen, einem Marder entfernt ähnlich, allein mit weit mehr gebogenem Rücken und in viel größeren Wölbungen; er schlägt beinahe lauter Purzelbäume. Dieser Gang, die dabei hervortretende Leibesgröße und die dicke, buschige Lunte waren Zeichen genug, um meinen Jagdgegner genau zu erkennen und zu würdigen. Ich würde den seltnen Vielfraß natürlich weit lieber erlegt haben, als ein Rennthier, hätte er es nur dazu kommen lassen. Noch ehe ich mich ihm auf anderthalb Büchsenschußweiten genähert hatte, mußte ihm eine Ahnung seiner unsicheren Lage gekommen sein; er verließ seine Warte plötzlich, trabte, trottelte oder kugelte dem Gebirge zu, fing unterwegs flugs einen Lemming, verspeiste ihn im Weiterlaufen, sah sich noch einmal nach mir und wahrscheinlich betrübt nach den Rennthieren um und verschwand im Geklüft des Bergrückens.

Die Rennthiere schienen sich inzwischen wieder beruhigt zu haben. Sie äßten sich wie zuvor. Wir krochen mit äußerster Vorsicht weiter, einige Male auch durch Wasserpfützen hindurch, weil wir nicht ausweichen konnten. Noch hatten wir etwa zweihundert Ellen zurückzulegen. Da wurde das Leitthier von Neuem unruhig – und dahin stob wieder das ganze Rudel. Ein anderweitiger Versuch, uns zu nähern, endigte wie dieser. Die Mulde war gar zu flach und bot nirgends irgend welche Deckung. Das vorsichtige Wild hatte uns zwar bemerkt, glücklicherweise aber nicht erkannt und glaubte sich geborgen, wenn es einige hundert Schritte weiter gezogen war. Ich fragte Erik, ob es nicht möglich sein sollte, die Rennthiere mir zuzutreiben; er aber verneinte diese Frage so bestimmt, daß ich aus meiner Ansicht nicht weiter beharren mochte. Nach längerer Berathschlagung schien es uns Beiden am gerathensten anzustehen oder vielmehr anzuliegen. Wir wählten also zwei Stellen, welche wir für passend hielten, und deckten uns hier hinter Steinen so gut als möglich. Drei, sage drei Stunden lagen wir nun auf derselben Stelle, fast ohne uns zu rühren. Alle Glieder wurden steif, und die Lage auf dem feuchten Moose wurde zuletzt äußerst unbehaglich. Es war eine wirkliche Qual, das Wild fortwährend in größter Nähe vor sich zu sehen, ohne ihm beikommen zu können. Ein Stück um das andere that sich nieder. Die alten Thiere spielten mit den Kälbern; einige äßten sich, zogen hin und her, sicherten von Zeit zu Zeit und bewegten sich gelassen weiter, immer auf derselben Stelle. Aber wir hielten aus, bis Leben und Bewegung in die Thiere kam. Langsam aber stetig zogen sie auf uns zu, leider mehr nach Erik’s als nach meinem Anstand hin; zuweilen bemächtigte sich das Jagdfieber meiner und schüttelte die Büchse hin und her, wenn ich versuchsweise anschlug. Jetzt brauchten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_090.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)