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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

reden. Keiner verstand den Anderen. Aber sein Lamentiren verstanden sie. Und –

„Bei dem heiligen Georg,“ sagte der Russe auf einmal wieder stutzend, „wenn es doch nicht der Rechte wäre! Der stolze Pole würde nicht so heulen.“

Mir bebte das Herz im Leibe. Aber ein anderer der Russen bemerkte: „Er muß es doch sein. Der lange Körper stimmt. Er ist betrunken und darum weint er wie ein Weib.“

„Ja, so ist es.“

Wie segnete ich die langen Beine des Assessors und seinen ausgezeichneten Punsch! Sie sprachen nicht mehr mit ihm. Auch seine Stimme wurde nicht wieder laut. Sie mußten ihn kurz und gut geknebelt haben. Kurz und gut. Man hatte keine Bewegung weiter gehört. Er mußte sich nicht einmal gewehrt haben. Sie sprachen unter sich wieder, und mein Dolmetscher übersetzte mir weiter: „Wo werden wir nun die Frau mit dem Kinde finden?“

„Sie muß in dem Zimmer auf der andern Seite des Ganges sein.“

„Ist das Zimmer besetzt?“

„Ja, sie kann nicht entkommen.“

„Hinein.“

Wieder wurde leise eine Thür geöffnet. Sie verfuhren nach wie vor so geräuschlos wie möglich. Aber was half ihr leises Auftreten gegen die helle, klare Stimme der Harfenistin und Sängerin Laura Lautenschlag?

„Herr Assessor, es ist schändlich von Ihnen, Einen so im Schlafe zu überfallen.“ So kreischte sie wüthend auf. Der arme Assessor! Er selbst war überfallen, gebunden und geknebelt dazu. So lag er draußen im Gange vor der Thür. Und er sollte schändlicherweise eine so tugendhafte Dame überfallen haben! Und er hörte das, er konnte sich nicht wehren, er mußte die Anklage des schmachvollen Attentats über sich ergehen lassen! Ich hätte lachen mögen und konnte es doch nicht, vor ungeheurer innerer Angst. Der letzte entscheidende Moment war da. Auch die Harfenistin war groß, vielleicht noch größer als die Polin. Aber sie war blühend, stark und hatte viel Punsch getrunken. Dazu war das Kind nicht da.

„Zum Teufel, die schreit!“ übersetzte mir der Dolmetscher den Fluch der Russen. „Knebelt sie.“

Aber mit ihr konnten sie nicht so kurz und gut fertig werden, wie mit dem langen Assessor. Man hörte ein Wehren, Balgen, Stoßen. „Hülfe, Herr Assessor!“ rief sie dazwischen. „Ich bin hier überfallen.“

Sie hatte wohl erkannt, daß der brave Assessor es nicht war, der ein Attentat gegen sie machte. Der Arme konnte auch ihrem Hülferufe nicht entgegenkommen, trotzdem er das Polizeidepartement hier an der Grenze hatte. Die Harfenistin hatte nicht weiter rufen können. Sie war überwältigt. Nach ihrem Kinde fragte man sie noch. Sie verstand die Frage nicht.

„Ei, was geht uns am Ende das Kind an?“ meinte einer der Russen. „Des Krügers Weib wird sich des Wurms erbarmt haben. Die Weiber sind mitleidige Thörinnen. Lassen wir es ihr.“

Sie waren fertig. Eine tiefe Stille herrschte. Sie schienen zu horchen, ob es in den übrigen Theilen des Hauses ruhig geblieben sei. Dann kamen sie die Treppe herunter, langsam und leise, wie sie hinaufgegangen waren. Das Herz klopfte mir noch. Der geringste Zufall konnte noch immer Alles wenden. Sie kamen an der Thür vorbei, an der ich in dem angstvollen Harren stand. Wenn sie Einlaß begehrten, dann Licht, dann sahen, verglichen–! Sie gingen an der Thür vorüber. Die Hausthür wurde geöffnet, und sie schritten aus dem Hause. Kein Wort war gesprochen. Die Schritte waren langsam, regelmäßig. Die Gefangenen schienen getragen zu werden. So war es.

Das Herz klopfte mir nicht mehr ängstlich. Aber ganz frei ausathmen konnte ich noch nicht. Ich trat an das Fenster zurück und sah sie aus dem Hause kommen. Zwei Personen – die beiden Gefangenen – wurden von je zwei Mann getragen, zu der Kibitke hin, die noch im Wege hielt. Dann bestieg Alles wieder die Pferde. Ein leises Zeichen hatte die detachirten Trupps zurückberufen. Sie setzten sich wieder nach der Grenze hin in Bewegung. Alles war wieder schweigend, geräuschlos, in der musterhaftesten Ordnung geschehen. Sie kehrten in ihr Rußland zurück, in den unglücklichsten Theil ihres großen und heiligen Rußlands. Das Herz wurde mir ganz leicht.

Aus der Stube nebenan kam der Pole hervor, der Graf Tomborski. Er ergriff meine Hand und fiel mir weinend um den Hals. Sprechen konnte er nicht. Ich führte ihn zu der Stube zurück.

„Sie bedürfen der Ruhe. Wird die Kranke morgen früh weiter reisen können? Mein Wagen wird fertig sein.“

„Ich hoffe es. Sie schläft noch immer.“

Auch ich legte mich zur Ruhe, mit dem Dolmetscher und dem Krüger, den ich auch jetzt nicht von mir ließ. Wir bedurften Alle der Ruhe. Ich fand sie lange nicht. Kosaken und Straßniks, schwarzweiße Störche und arme Polen tanzten wirr vor meinen Augen umher. Eine lange Harfenistin spielte ihre Harfe dazu und sang dazwischen, daß sie eine tugendhafte Person sei und kein Kind habe. Dann wollte es mich aber wieder heiß überlaufen. Wenn drüben an der Grenze Jemand wäre, der den Grafen Tomborski kannte! Wenn sie dann nochmals zurückkehrten, geführt von dem wüthenden Assessor selbst! Die Nacht war noch lang und die Grenze war nahe. Aber eben der Assessor war mir eine Bürgschaft dafür, daß sie nicht zurückkamen.

Es ist ein eigen Ding um einen echten preußischen Beamten. Die Pflicht seines Amtes geht ihm über Alles, sie ist seine Ehre, sein Leben. So war es wenigstens früher, vor jenem zehnjährigen Regiment, als man an die Stelle der Ehre und der Pflicht den blindesten Gehorsam gegen den Vorgesetzten stellte und durch die Erfindung der Disciplinargesetze vollends der Ehre und der Pflicht der Beamten den Boden auszuschlagen suchte. Der Assessor hätte sich mit Hand und Fuß, mit Kopf und Herz gegen einen Grenzexceß gewehrt. Und dem preußischen Beamten gegenüber, also offen, hätten die Russen ihn nicht gewagt. Ich schlief zuletzt ebenfalls ein.

Als ich früh am Morgen erwachte, stand der Graf Tomborski schon an meinem Lager.

„Mein Herr, Sie hatten die Güte, mir Ihren Wagen anzubieten.“

„Er steht zu Ihren Diensten, mein Herr.“

„Meine Frau fühlt sich wohler. Die Ruhe der Nacht hat sie gestärkt. Wir können reisen.“

„Sie sollen es auf der Stelle.“

Ich sprang auf und rief selbst meinen Kutscher, der im Stalle bei den Pferden geschlafen hatte. Er spannte an, und eine Viertelstunde später saß der Graf mit Frau und Kind im Wagen. Von ihrem Danke spreche ich nicht. Die arme Frau war fast aufgelöst in Thränen des Dankes, der Freude. Wohin sie wollten, ich erkundigte mich nicht danach.

„Sie haben über meinen Kutscher zu befehlen,“ sagte ich zu dem Grafen.

„Ich bedarf seiner,“ erwiderte er mir, „nur wenige Stunden. Zwei Meilen von hier warten Freunde auf mich. Sie durften sich in größerer Nähe der Grenze vorher nicht aufstellen, um nicht die russischen Beamten aufmerksam zu machen, die auch auf dieser Seite der Grenze, gerade auf dieser Seite, überall ihre Spione haben.“

Sie fuhren davon. Sie waren gerettet und blieben es, wie ich später erfuhr. Der Assessor Häring aber? Und die Harfenistin Laura Lautenschlag? Die Knechte des Kruges und die fremden Kutscher hatten im Stalle geschlafen; die Mägde des Hauses in einem Verschlage daneben. Ihrer Aller Schlaf war in der Nacht keinen Augenblick gestört worden. Der Kutscher des Assessors fragte am Morgen zuerst nach seinem Herrn. Niemand hatte ihn gesehen. Er schlafe wohl noch, hieß es. Der Kutscher wartete. Aber sein Herr hatte ihm befohlen, sich früh zur Reise nach der Grenze fertig zu machen. Das Warten wurde ihm zu lang. Er ging zu der Stube seines Herrn hinauf und kam mit einem leichenblassen Gesichte zurück. Der Assessor war fort. Nur seine Stiefeln waren da, seine weiße Halsbinde und seine Acten.

„Er hat sich ein Leid angethan, der arme Herr,“ sagte der Kutscher. „Ich habe es immer gedacht, daß es nicht ganz richtig mit ihm sei. Er zog die Beine immer so hoch, und sie waren doch schon lang genug. Und wenn er allein fuhr, sprach er immer laut mit sich: Regierungsrath, Geheimer Rath, Präsident, Rother Adler. Und dann sprang er auf einmal auf, daß er oben die Decke des Wagens beinahe eingestoßen hätte. Der arme Herr! Wo man ihn nur finden wird?“

Nach dem armen Assessor wurde die Harfenistin vermißt. Eine Magd, die zu ihr gewollt hatte, stürzte mit einem fürchterlichen Geschrei die Treppe herunter.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_195.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2022)