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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

mir das leid, und ich konnte mich nicht entschließen, eine seiner Vorlesungen hier in London zu besuchen. Dickens schien mir dadurch eine Stufe herunter zu steigen, und andere Deutsche, mit welchen ich hier darüber sprach, hatten ganz dieselbe Empfindung. Es fehlt uns in Deutschland zwar nicht an ähnlichen Schriftstellern, allein wir betrachteten sie immer mehr als Lustigmacher, und unsere Achtung vor ihnen war nicht besonders groß. Ich erinnere an Sapphir und seine Nachahmer, mit denen Dickens wohl nicht gern gleichgestellt werden möchte.


Dickens als Vorleser.


Dramatische Vorleser und Schauspieler wiederholen zwar auch oft dasselbe, und wir hören sie stets mit Vergnügen und denken nicht, daß sie sich dadurch herabsetzen; ja, wir schätzen nicht einmal den Schauspieler gering, der den gestiefelten Kater spielt; allein was würden wir von dem Herrn Hofrath Tieck denken, wenn er hundert Abende hintereinander in dieser Rolle aufträte?

Als ich einst einer Vorlesung von Herrn und Madame Ronge über Kindergärten in der St. Martins-Halle in London beiwohnen wollte, freute ich mich, das Gedränge am Eingange zu sehen. Da wogte ein Meer von Köpfen, und die Leute, welche wegen Mangel an Raum abgewiesen wurden, machten sehr trübselige Gesichter, was mich für unsern Landsmann aufrichtig freute. Aber ach, meine Freude war voreilig, denn als ich am Eingange mein Billet vorzeigte, wies man mich mit der Bemerkung zurück, daß dies eine Vorlesung von Dickens sei. Die unseres Landsmanns fand in einem kleineren Locale desselben Hauses statt, und – am Eingange war kein Gedränge und im Saal viel mehr Platz für Zuhörer als Zuhörer.

Dickens hat großes dramatisches Talent, wie Alle versichern, die ihn auf Privatbühnen auftreten sahen. Erst gestern sah ich in einem Ladenfenster einen von Dickens selbst mit seinem Namen unterzeichneten Abdruck einer großen Lithographie, die ihn in einer Theaterscene darstellt. Da alle Leute, die ihn vorlesen hörten, den gehabten Genuß nicht genug rühmen konnten und ich in der That vor Begierde brannte, ihn ebenfalls zu hören, ein Wunsch, der durch meine persönliche Bekanntschaft mit ihm noch erhöht wurde, so beschloß ich meine vielleicht abgeschmackte Bedenklichkeit zu besiegen und seiner letzten Vorlesung in dieser Saison beizuwohnen.

Dieselbe sollte in der zwischen Piccadilly und Regentstreet sich ausdehnenden St. James-Hall stattfinden, wo Dickens einige Capitel aus „Dombey und Sohn“ und die Gerichtsscene aus den „Pickwickiern“ vorlesen wollte. Die Vorlesung fand am Abend statt. Der sehr große, wunderschöne Saal war so gefüllt, als er nur sein konnte, und es waren wohl zweitausend Zuschauer anwesend, wenn nicht mehr. Das will etwas heißen, wenn man bedenkt, daß Dickens dieselbe Vorlesung schon sehr oft gehalten hat und daß die Plätze von 20 Sgr. bis 1 Thlr. 20 Sgr. kosteten. Das Publicum gehörte meist der höheren Mittelclasse an; allein auf den Zweischillingplätzen sah man auch nicht nur Männer und Frauen aus dem Handwerkerstande, sondern selbst gewöhnliche Arbeiter, Soldaten und Seeleute. Es war angenehm ihre Gesichter zu beobachten. Man konnte auf allen lesen, daß man einen großen Liebling des Publicums erwartete, einen Liebling, den man nicht nur liebte, wie zum Beispiel einen komischen Schauspieler, sondern den man sehr verehrte und achtete, dem man dankbar dafür war, daß er sich herabließ, sein ihm neben dem größern Talent gefällig verliehenes geringeres zur Unterhaltung seiner Freunde und Verehrer auszuüben.

Auf der für das Orchester bestimmten Erhöhung – es werden in dem Saale fortwährend Concerte gehalten – stand ein Tisch mit einem kleinen Pulte und Wasserflasche und Glas. Hinter demselben war eine Wand von dunkelbraunrothem Tuch aufgestellt und vor dem Tisch, in der Höhe von etwa acht Fuß, eine Reihe von acht Gaslichtern angebracht, die das Publicum nicht sah und deren Schein den braunrothen Schirm und den Tisch erleuchtete. Personen gingen zwischen den Reihen der Zuhörer umher und boten „Dombey und Sohn“ und „The trial of Pickwick zum Verkauf aus, wie auch Papierfächer, auf denen Scenen aus diesen Romanen abgebildet waren.

Als Dickens erschien, wurde er mit einem achtungsvollen Applaus begrüßt, von dem er aus Grundsatz keine Notiz nahm, da man sich bestrebt, das widerliche und störende Bedanken für Applaus auch von der Bühne zu verbannen. Dickens ist ein hübscher, noch jung und blühend aussehender Mann, mit klugen Augen und einem humoristischen, etwas sinnlichen Munde. An jenem Abende erschien er mit weißer Weste und weißer Halsbinde und trug eine Blume im Knopfloch; kurz er war „in dress“ d. h. im Gesellschaftsanzug. Die beifolgende Abbildung, freilich in der grellen Beleuchtung von acht Gaslichtern aufgefaßt, ist sehr gut und ähnlich.

Die Vorlesung begann mit „Dombey und Sohn“. Da ich etwas entfernt von dem Vorleser saß, so gebrauchte ich mein Opernglas, welches mich in den Stand setzte, jeden Wechsel in seinen Zügen zu beobachten, wodurch ich das, was er las, noch besser verstand und genoß.

Der Ton und die Art des Vortrags der englischen „lecturers“ – Personen die Vorlesungen halten – ist ganz eigenthümlich und durchaus von den bei uns gebräuchlichen abweichend. Die meisten lesen außerordentlich schnell, und die immer wiederkehrende Modulation im Ton macht diese Vorlesungen sehr monoton. Es dauert eine ganze Weile, ehe ein Deutscher sich daran gewöhnt. Alle Stellen des Buches, in welchen Personen nicht redend eingeführt sind, liest Dickens in ähnlicher Weise; allein er thut es dennoch ebenso verschieden von andern, gewöhnlichen lecturers, als er selbst

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 613. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_613.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)