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Platz in ihr zu greifen, daß für lange nicht mehr ihren Bleibens in der Familie sein könne, wenn sie sich nicht innerlich aufreiben wolle, daß sie freiwillig gehen müsse, wenn sie nicht einmal durch den Ausbruch ihrer verwundeten Seele unvorbereitet dazu gezwungen werden solle. Wohin aber in dieser unbekannten Welt, war ihr so lange unklar, bis ihr eines Tags bei einem Blick in die Zeitung die Ankündigung einer offenen Stelle für eine Erzieherin in einer Familie der südlichen Grenzstaaten vor die Augen kam.

Schon zwei Stunden darauf war ein Brief von ihr an die bezeichnete Adresse abgegangen. Sie dachte nicht daran, daß Empfehlungen und Zeugnisse für ein derartiges Unterkommen nothwendig seien; sie hatte, wie die Erregung des Augenblicks es ihr eingegeben, ihre Lage kurz geschildert und ihre Kenntnisse aufgezählt, und erst bei ruhigerem Blute wollten Bedenken in ihr aufsteigen, ob sie nicht zu voreilig gehandelt, ob sie sich nicht mit ihrer Offenheit, völlig fremden Menschen gegenüber, der Lächerlichkeit preisgegeben. Und zugleich, wenn sie an die Möglichkeit einer Annahme ihres Anerbietens dachte, überkam sie ein Zagen vor den neuen unbekannten Verhältnissen, vor dem ungewohnten Wirkungskreise, dem sie vielleicht nicht einmal gewachsen – diese Regung schwand indessen, je mehr sie sich zwang, das, was sie im schlimmsten Falle treffen und von ihr gefordert werden könne, klar vor die Augen zu stellen, und zuletzt blieb ihr nur noch die Sorge, vielleicht ganz ohne Antwort gelassen zu werden. Aber eine Antwort kam, schneller als sie gehofft; mit einem verwunderten Blicke auf das Postzeichen legte ihr Pflegevater das geschlossene Convert in ihre Hand, und mühsam ihre Erregung verbergend, suchte sie ihr Zimmer. Es war eine sonderbar lakonische Antwort. Wenn sie den Muth in sich fühle, einen Versuch bei ihrer mangelnden Erfahrung, selbst auf die Gefahr des Mißlingens hin, zu machen, so möge sie kommen, hieß es, und eine Banknote im ungefähren Betrage des Reisegeldes war beifügt. Nur einige Secunden lang stand sie mit ihrem letzten Entschlusse kämpfend, dann ging sie zu ihrem Pflegevater.

Schon am nächsten Tage hatte sie ihre Heimath im Rücken. Ihr bisheriger Schützer hatte nur wenige schwache Bedenken ihrem Plane entgegen zu setzen gehabt, und fast hatte es ihr scheinen wollen, als fühle er sich mit ihrem Gehen einer stillen Last enthoben. Indessen hatte er ihr beim Abschiede eine Hundertdollarnote in die Hand gedrückt und ihr gesagt, sie möge, falls sie in Verlegenheit gerathe, nie vergessen, wo ihre zweiten Eltern wohnten; ihre Pflegemutter aber hatte sich über eine augenblickliche Betroffenheit, welche sie bei der Ankündigung von dem Entschlusse des Mädchens überkommen, leicht hinweggeholfen und gemeint, einige Zeit unter fremden Leuten werde nur heilsam auf Lucy’s Charakter einwirken. Ihren beiden Cousinen war es bei der Nachricht von ihrer bevorstehenden Abreise sichtlich leicht geworden, und so hatte sie ihren eigenen Weg zur Bildung ihrer Zukunft angetreten, hatte einen wunderbaren Muth in dem Gedanken, sich jetzt frei und selbstständig bewegen zu können, gefunden, zugleich aber sich vorgenommen, jeden Cent ihres Geldes zu Rathe zu halten, um im Falle des „mißlungenen Versuchs“ welcher ihr in Aussicht gestellt worden, nicht in die Nothwendigkeit versetzt zu werden, vor Erlangung eines andern Unterkommens in ihre bisherige Heimath zurückkehren zu müssen – und so war sie mit dem Dampfboote in der großen Stadt, kaum einige Meilen von ihrem Bestimmungsorte, am späten Abend angelangt. Sie hatte, um Kosten zu ersparen, ein ihr bezeichnetes Hotel zu Fuße erreichen wollen, war aber schon bei den ersten Schritten auf dem Boden ihrer neuen Selbstständigkeit in Verlegenheiten gerathen, die sie in ihrer geschützten Stellung bis jetzt kaum geahnt, und es hatte zuletzt des kräftigsten Aufraffens ihres Muthes bedurft, um das Vertrauen auf sich und eine erträgliche Zukunft wieder zu gewinnen.

Draußen schlug der Regen noch immer auf das Pflaster, bald einen Marsch trommelnd, bald mit dem herbeieilenden Winde eine Galoppade versuchend, und sobald der Schlummer sich auf die Augen des ermüdeten Mädchens senken wollte, schreckten ihn unheimlich auftauchende Traumgestalten wieder hinweg. Erst nach geraumer Zeit nahm sich endlich die körperliche Erschlaffung ihr Recht und legte über sie den tiefen, traumlosen Schlaf der kräftigen Jugend.

Ein heller Morgen weckte die Ruhende, und mit den jungen Sonnenstrahlen war auch ihr Muth in voller Frische wieder erwacht. Das kahle Zimmer um sie erweckte jetzt mehr ihr Interesse als das gestrige Gefühl der Unheimlichkeit – sie hatte noch nie in das Innere eines dieser zahlreichen Kosthäuser für die junge arbeitende Bevölkerung gesehen, und ohne besonderen Widerwillen machte sie Gebrauch von den für ihre kurze Toilette vorhandenen Geräthschaften. Als sie endlich die Treppe hinab schritt, um die nöthigen Maßregeln zu einem baldigen Verlassen des Hauses zu treffen, blickte ihr aus der Hausflur bereits ihr Koffer nebst ihrer Reisetasche entgegen, in der offenen Thür nach der Straße aber stand ihr gestriger Helfer im Gespräche mit einer frischen, sauber gekleideten Frau und hob mit einem jovialen Schmunzeln die Augen nach ihr.

„Ich habe schon für die beste Legitimation gesorgt,“ sagte er auf das Gepäck deutend, „sie hier ist wie ein grimmiger Wolf in gewissen Dingen, ich aber vor Allen wäre halb zerrissen worden, wenn nicht Alles sauber gewesen!“

Die Frau sah mit einer Kopfbewegung voll launiger Drohung nach dem Sprecher und kam dann ihrem Gaste entgegen. „Sie werden es nicht gefunden haben, wie Sie es gewohnt sind, Miß, und auch nicht so aufgenommen worden sein, man kann sich hier aber nicht genug vorsehen,“ sagte sie, die Thür zu dem nächsten Zimmer öffnend. „Wollen Sie jetzt hier herein treten und sagen, was Ihre Wünsche sind, so brauchen Sie nicht erst noch einmal ein anderes Hotel aufzusuchen!“

Eine halbe Stunde darauf hatte Lucy von ihrem Zufluchtorte Abschied genommen, hatte dem „Milch- und Gemüsehändler“, der ihr lachend Vorsicht für die Zukunft empfohlen, da sie nicht immer einen so ehrlichen Kerl auf ihrem Wege treffen würde, den Wunsch ausgedrückt, ihm den geleisteten Dienst einmal vergelten zu können, und rollte in einem gemietheten Wagen der Farm entgegen, welche in glücklichem Falle ihre neue Heimath werden sollte. Der Kutscher hatte wohl gemeint, den „angegebenen Platz“ zu kennen; auf ihre vorsichtig gethanen Fragen nach der Familie aber halte sie von keiner Seite Auskunft erhalten können und unwillkürlich prüfte sie sich jetzt, ob sie im Stande sein werde, auch weniger angenehme Verhältnisse dauernd zu ertragen. „Lerne Dich fügen!“ klangen ihr die Worte ihrer Mutter wieder in´s Ohr, und sie glaubte dies unter fremden Menschen eher ermöglichen zu können, glaubte in einer bestimmt bezeichneten Stellung eher ihre Genugthuung, selbst unter schwierigen Verhältnissen, zu sinken, als unter Leuten, welche sie die Ihren nennen sollte und die es doch niemals gewesen waren.

Eine Stunde lang mochte sie unter den verschiedenartigsten Bildern, welche sie sich von dem sie erwartenden Orte zu machen gesucht, gefahren sein, als der Kutscher plötzlich die Pferde anhielt und um sich blickte. „Der Platz muß jedenfalls hier herum sein, und ich kann nicht begreifen, daß ich nirgends ein Anzeichen sehe!“ sagte er, während er von Neuem die ganze Umgebung durchspähte.

Lucy wandte zum ersten Male mit Bewußtsein ihr Auge der Landschaft zu. Rechts von der schmalen Straße erstreckten sich weite eingezäunte Felder ohne irgend eine Spur eines Wohnhauses, links zog sich aus einem rasigen Abhange niedriges Gebüsch hin, das in kurzer Entfernung von dem Wagen wieder an endlose Felder schloß.

Mit einem Kopfschütteln stieg der Kutscher ab, band die Pferde an die nächste Einzäunung und wandte sich rückwärts, um sich zu orientiren; das Mädchen aber saß noch nicht lange allein, als sie am Ende des Gebüsches eine Männergestalt, sichtlich mit irgend einem Gegenstande beschäftigt, auftauchen und zwei Negerköpfe ihr folgen sah. Ohne langes Bedenken verließ sie den Wagen, um selbst die nöthigen Erkundigungen einzuziehen, und stand nach wenigen Secunden vor einem hohen Manne in farmermäßigem Sommeranzuge, mit breitem Filzhute über einem von schwarzem Bartwuchse eingerahmten, kaum mehr jugendlichen Gesichte, das sich in einer eigenthümlichen Aufmerksamkeit hob, als sie ihre Frage that.

„Ihr Kutscher hat eine halbe Meile von hier die falsche Straße eingeschlagen!“ sagte er, nachdem sein großes dunkeles Auge ihre ganze Erscheinung überflogen hatte; „er kann nicht fehlen, wenn er dort die Richtung links nimmt!“ und mit einer leichten Verbeugung wandte er sich wieder den beiden Negern zu; Lucy aber meinte noch niemals in ein Auge geblickt zu haben, das so wie dieses auf den Grund ihrer Seele zu dringen schien, ohne doch in seiner Schärfe etwas Verletzendes für sie zu haben. Sie sah, sich umwendend, wie der Kutscher bereits ihr Gespräch bemerkt, und bald hatte dieser mit einem: „So ist es, wenn man seine geraden Straßen gewohnt ist!“ die Pferde wieder zurück gewandt.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 675. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_675.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)