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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

um aus diesen 60,000 eben je einen einfachen, feinsten Faden zu spinnen.

Maschinen zum weiteren und zugleich compacteren Ausziehen – Spindelmaschinen – liefern schon so zusammenhängende, lampendochtähnliche Fäden, daß sie sich auf Spindeln wickeln. Dies geschieht in dem Drossel-Raume, einer Singakademie, wo nicht weniger als 18,000 Drosseln immerwährend Chor singen. Das sind die 18,000 sausend gedrehten Spindeln dicht neben einander in schnurgeraden Linien, von einem Rade gedreht, und dies Rad von einem einzigen Riesenschaft aus, der senkreckt durch alle Etagen hindurchsteigt, alle 250 Pferdekräfte der ganzen Anstalt in sich vereinigt und über Millionen von mechanischen Bewegungen ausdehnt. Durch langsameres Ab- und schnelleres Aufwinden der Spindeln und Spulen werden hier die Fäden endlich zu ihrer erforderlichen Feinheit ausgezogen und dabei für die feinsten Sorten von Twist für Spitzen, z. B. für Nr. 100, bis zum Sechzigtausendfachen ihrer ursprünglichen Einfachheit verdoppelt. Je feiner das Garn oder der Zwirn, desto mehr Doppelung und Ausziehung, weil nur dadurch die möglichen Ungleichheiten bis zum Unentdeckbaren verschwinden. In London kann man in jedem Posamentirladen 100 verschiedene Stärke- und Feinheitsgrade von Nähbaumwolle kaufen.

Obwohl verschiedene Firmen beliebig andere Arten des Numerirens angenommen haben, gilt doch als Regel, daß, je höher die Nummer, desto feiner der Faden. Alle Arten, auf hölzerne Wickel gewunden und so glatt und eben, daß nie ein Faden den andern kreuzt, sind durchaus seidenglänzend, rein wie frisch gefallener Schnee und so egal, daß die feinsten Haare im Malerpinsel nicht glatter sein können. Jede Frau, die mit englischer Nähbaumwolle arbeitet, kann uns dies zeigen und bestätigen.

Wir steigen eine Etage höher, während das ganze Königreich mit Tausenden von Gaslichtern illuminirt wird. Hier verbreitet unser alter Freund, der Hauptschaft, ebenfalls ein unabsehbares spinnendes Leben, aber nicht mit Drosseln, sondern mit „Mauleseln“. Die Spinngestelle zum Ziehen und Drehen des Schußgarns heißen hier eben Maulesel, und wir lassen den Namen gelten, wie Schulze und Müller, ohne nach Ursachen zu fragen. – Es arbeiten immer je zwei Mauleselgestelle mit und gegen einander, ein fahrendes und ein stehendes. Ersteres, auf Eisenschienen hin- und zurückfahrend, zieht die sich drehenden Fäden – immer Hunderte auf einmal – aus und übergiebt sie im Wiederkommen den aufrollenden Spindeln des letzteren. Das geschieht Alles so leicht, sicher und gewissenhaft, daß ein Paar Männer und Jungen im Stande sind, alle etwa reißenden Fäden an je zwei Paaren im Nu wieder anzulegen.

Eine Treppe höher – wieder Drosseln in’s Unabsehbare. Noch eine Treppe höher – Alles voll Maulesel bis in verdämmernde Ferne. Alles Maschinerie von den tiefsten Tiefen bis zu den höchsten Höhen und in jeder Etage unabsehbar. Dazwischen nur einzelne verstreute, mechanische, lautlose, in dem ewigen Gewirr und Gedonner ohne bin unhörbare Menschen, alle gespannt aufpassend und mechanisch zugreisend, wenn die Maschinerie es verlangt, Knaben, Mädchen erhitzt (die feinen Fäden gedeihen nur in hoher Temperatur), alt, nichtssagend, wie Maschinentheile aussehend, Menschen kaum hier und da einzeln und einsam zu entdecken - und doch 1800 Menschen an der Zahl. Ueber 1800 Menschen, deren Seele und Gesundheit hier mit versponnen wird, indem sie Maschinen beaufsichtigen, welche über 120,000 spinnende Hände nicht blos ersetzen, sondern an Feinheit und Meisterschaft der Arbeit unendlich übertreffen.

Endlich ein geschlossener, übersehbarer Raum voll junger Mädchen; aber sie sehen alle so kahl ans wie Puppenköpfe, nur älter, ernster, blässer. Sie beaufsichtigen die allgegenwärtige, uns noch nicht zu Gesicht gekommene Dampfthätigkeit, die hier in zauberhafter Geschwindigkeit das Garn von den vollen Spindeln auf große, dicke Wickel dreht. Wir können hier nicht auf die Unterschiede des von Drosseln und Mauleseln gesponnenen Twistes eingeben; genug, daß erstere das Grund- oder Ketten-, letztere das Einschußgarn liefern. Das so gewickelte Garn marschirt nun dem Webstuhle entgegen und dabei durch verschiedene Processe der Vorbereitung, z. B. durch Kleister und über heiße Walzen, die einen unangenehmen Dampf verbreiten und das Garn trocken und gestärkt entlassen. Dies geht nun in die Hände der geschicktesten und am besten bezahlten Arbeiter, die den Webstuhl „bekleiden“. Sie verdienen 10 bis 15 Thaler wöchentlich.

Der Mechanismus des Webens ist ziemlich bekannt. Nur daß die Maschine viel sicherer, schneller und massenhafter arbeitet, als unsere verhungernden, verschollenen Leineweber. Wir machen nur auf die beiden mechanischen, dampfgetriebenen Hände aufmerksam, welche das Weberschiffchen immerwährend leise, blitzschnell und sicher durch die auf- und abkreuzenden Fäden treiben und so den Einschlag machen.

Nun einen Blick in das Webe-Departement! Wer wird’s uns glauben, wenn wir sagen, wie viel Webstühle derselbe allgegenwärtige, allmächtige Schaft hier bewegt? Glaubt’s oder nicht – es sind 1345 mit 2690 mechanischen Händen für die Webeschiffchen und einer Menge Kinder- und Mädchenhände zum Bedienen. Diese unendlichen Lichter, dieses ewige Klappen, Quirlen, Ziepen und Bumpsen, dieses Sausen und Säuseln, dieses Hereindonnern des Dampfriesen von unten, diese schweigenden, ernsten Kinder dazwischen – welch’ eine Welt, welch’ eine verzauberte, verwunschene Herrlichkeit und Glorie der verfluchten, Menschen beherrschenden, Republiken zerstörenden, Sklaverei heiligenden, Freiheit brandmarkenden, England demoralisirenden, die Welt verrückenden dämonischen Baumwollen-Industrie!

Noch einen Blick in den einsamen, eleganten Kerker des Dampfriesen, der mit jedem Athemzuge, jedem leicht gleitenden Stoße der Kurbel 250 Pferdekräfte durch diese ungeheuere acht Stock hoch über einander gebaute Maschinenstadt so sicher und regelmäßig ausstrahlt, daß unzählige Maschinen auf sein Geheiß pünktlich und präcis worfeln und schaufeln und sieben und Schneestürme von Baumwolle unterhalten, daß diese Schneestürme sich in feine, ruhige Nebel verwandeln, riefe dann zu milchigen Strömen runder Fäden werden, diese Fäden sich bis zum Sechzigtausendfachen in einander und zur Feinheit des Spinnenfadens ausglätten und dehnen, diese Fäden sich in beinahe anderthalbtausend Webstühlen zu glatten Callicoflächen verdichten und aufrollen und Palmerston nöthigen, in der ganzen Welt Kriegsschiffe zu halten und Löcher nach China und Japan hineinzuschießen, Callico und baumwollene Taschentücher hindurchzustecken und den Böllern rund um die Erde zu drohen, die sich dieser Baumwollen-Politik nicht fügen wollen. Wackerer, stolzer, einsamer Dampfriese, du weißt nichts von dem anfangs unschuldigen Milch- und dem nachfolgenden Blutregen, den die Früchte deiner Kraft über die Erde ausschütten. Hättest du aber Bewußtsein, gewiß würdest du dich lieber in deinem eigenen Dampfe ersticken, statt die Verantwortung dafür auf dich zu nehmen. Und wie wär’s, wenn man diese stolze Anhäufung von Technik, Mechanik und Genialität edleren, kleidsameren, nicht durch Sclaverei erpreßten Stoffen zu Gute kommen ließe? Wenn du in Wolle, Seide, Flachs schwelgen könntest? Wenn die Millionen Capital-, Pferde- und Menschenkräfte, die jetzt in dem Fluche Amerikas zittern und schon vor Angst still stehen, dem friedlichen Producte des Schafes, der stillen, dichterischen Arbeit des Seidenwurmes, den Früchten deutscher Flachsfelder zugeflossen wären?

Der Riese schweigt, und auch wir Zwerge können nichts Besseres thun.




Blätter und Blüthen.

Ein Retter in der Noth. Im Sommer 1858 brannte der größte Theil des Dorfes Göhren (Kreis Arnswalde) ab. Drei Tage nach dem Brande führten mich Berufsgeschäfte auf die Brandstätte. Rauchende Schutthaufen auf allen Seiten bezeichneten den Umfang des Feuers. Aus mehreren derselben wurden halbverbrannte Pferde, Kühe, Schweine und Schafe hervorgezogen und auf Schlitten aus dem Dorfe geschleppt. Es war sehr warm. Ein bestialischer Geruch machte den längeren Aufenthalt auf der Brandstätte unmöglich. Hinter derselben, am Seeufer, sah ich den Bauer Meier. Er war einer der Abgebrannten. Mit trübem Lächeln reichte mir der Biedermann die Hand und erzählte dir Einzelnheiten des Unglücks. „Ich habe Vieles verloren,“ sagte er, „aber Gott hat mir zur rechten Zeit einen Freund gesandt, daß ich nicht Alles verlor. Ich hatte,“ erzählte er weiter, „mit den Meinigen den ganzen Tag über bei großer Hitze auf dem Felde bis zum Dunkelwerden gearbeitet, und wir saßen eben

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 783. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_783.jpg&oldid=- (Version vom 8.12.2022)