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über die Gemeinheit, womit ich das erkauft hätte? Meinst Du, ich könne meine Kinder ansehen? Und wenn Du Dir sagen mußt, daß das Alles nicht möglich sei, dann wirst Du mir auch, dem Gatten, der so lange an Deiner Seite gearbeitet, der so lange an seiner Seite Dein treues Arbeiten und Mühen gesehen hat, dann wirst Du mir auch die Kraft und die Liebe zu Dir zutrauen, daß ein ferneres treues Zusammenwirken mit Dir für uns und unsere Kinder nur mein Glück und meine Freude ausmachen wird. Nie, nie wirst Du eine Klage, ein Murren von mir hören.“

Es lag eine hohe, eine erschütternde Wahrheit in seinen Worten. Er sprach sie mit der tiefsten, festesten Ueberzeugung aus. Die arme Frau konnte sich nicht dem Einen, nicht dem Andern verschließen. Das Herz war ihr wieder so unendlich schwer geworden. Sie hatte gemeint, jeden Kampf hinter sich zu haben. Sie mußte wieder so entsetzlich kämpfen.

„Kannst Du mich noch verlassen wollen, Mathilde?“ fragte der Gatte.

Sie konnte nicht antworten. Sie fühlte nur, daß sie fort müsse, daß sie ihrer Schuld, ihrer Pflicht sich beugen, das schwerste Opfer bringen müsse. Sie fühlte aber auch schwerer und schwerer dieses furchtbare Opfer, sie wollte, sie mußte sich losreißen. Sie sah ihn bittend, flehend an, er möge sie lassen.

„Ich beschwöre Dich, Mathilde,“ flehte er.

„Ich kann nicht, Adalbert.“

„So gehe!“ sagte er. „Aber reiche mir noch einmal Deine Hand und laß uns noch einmal gemeinsam an die Betten der Kinder treten, zum letzten Male. Du führest mich ja jeden Abend hin, ehe ich in mein Zimmer ging. Komm, nimm Abschied von ihnen, für immer.“

Er hatte ihre Hand wieder ergriffen. Er führte sie zu den Betten der Kinder. Schon an dem ersten sank sie nieder. Sie sah die hellen, blonden Locken, das im Schlafe lächelnde Engelsgesicht der kleinen Hanna.

„Ich kann nicht!“ rief sie. Sie rief es wieder. Aber sie rief es anders. Es war der Aufschrei des Mutterherzens, das brechen muß. „Ich kann nicht, ich kann nicht!“

Der Gatte verstand den Aufschrei. Er hob sie vom Boden, an sein Herz.

„Du bleibst bei uns Allen, Mathilde.“

„Ich bleibe bei Euch Allen.“




Am anderen Morgen ging der Director Heilsberg zu dem Präsidenten. Aus seinem Gesichte leuchtete ein edler, freudiger Stolz.

„Sie haben sich entschieden. Ich darf Ihnen zum Präsidenten Glück wünschen!“ rief ihm der Präsident entgegen. Der aristokratische Bureaukrat hatte aus dem stolzen Gesichte nichts Anderes herauslesen können.

„Herr Präsident, ich komme, um meinen Abschied zu bitten.“

„Aber Sie sind ein Mann von Ehre. Sie können kein Dieb sein.“

„Eben darum muß ich um meine Entlassung bitten.“

Der Präsident konnte, wir haben es schon gesehen, mehr als bloßer Aristokrat und Bureaukrat sein. Er reichte dem Director die Hand.

„Sie sind in Wahrheit ein Ehrenmann, und ich bedaure in diesem Augenblicke, um meines Sohnes willen, daß Sie nicht auch ein Edelmann sind. Aber Sie haben Recht, Richter können Sie nicht mehr bleiben. Es wird sich etwas Anderes für Sie finden.“

Vierzehn Tage später erhielt der Director Heilsberg aus dem Justizministerium seinen erbetenen Abschied und zugleich „auf seinen Antrag“ die Ernennung zum Rechtsanwalt in einer entfernten Provinz des Staates, aber dort in einer größeren Stadt, in der ein reicher Verkehr herrschte und ein tüchtiger Advocat sich in wenigen Jahren ein bedeutendes Vermögen erwerben konnte. Er hatte nicht daran gedacht, auf eine solche Ernennung anzutragen; wie hätte er es wagen können? Aber er wußte, wer für ihn den Antrag gestellt hatte. Er nahm dankbar die Stelle an.




Die Geschichte, die ich hier erzählt habe, trug sich schon in den zwanziger Jahren zu. In den vierziger Jahren lernte ich den Rechtsanwalt Heilsberg und seine Gattin und Kinder kennen. Clementine, die arme Kranke, war in ihrem funfzehnten Jahre gestorben, wie die Aerzte vorhergesagt hatten. Die Anderen lebten sämmtlich noch. Der Director hatte sich ein Vermögen erworben; sie waren Alle glücklich und zufrieden. Auch Emilie. Sie war verheirathet. Ihr Gatte war ein braver, liebenswürdiger Mann und einer der tüchtigsten Aerzte der Stadt. Das junge Herz kann in seiner ersten Liebe sich zuweilen verirren; es geht nicht gleich darüber zu Grunde; aber es findet in der zweiten dann desto sicherer das wahre Glück der Liebe.


Auf Regen folgt Sonnenschein.

Aus dem Tagebuche eines Arztes.
(Schluß.)

Die Liebe, welche Brand für Anna empfand, wuchs durch das stete Beisammensein, durch die vielfachen Beziehungen zu einander mit jedem Tage mehr und mehr. Die gemeinsamen Opfer und die trefflichen Eigenschaften und Gefühle, welche die jungen Leute bei ihren menschenfreundlichen Leistungen vor einander entfalteten, waren nur zu sehr geeignet, die innige Neigung zu vermehren. Konnte es wohl eine zartere und geistigere Berührung für Liebende geben, als das Mitleid für Andere, ein edleres Band als gemeinschaftliches Wohlthun? Gegenseitig mußten sich Beide bei Ausübung ihrer Pflicht in einem verklärten Licht erscheinen und ihre Liebe unter der Form der Bewunderung und des Enthusiasmus fast unbemerkt sich ihres Herzens bemächtigen. Die armen Kinder wurden die Gluth ihres Herzens weit später gewahr, als ihre aufmerksame Umgebung. Der fanatische Pfarrer schien zuerst Verdacht geschöpft mit seinen Patron mit der Gefahr bekannt gemacht zu haben. Herr von Prodschintzky verstand in solchen Dingen keinen Scherz, um so weniger, da Brand Protestant war. Mit gewohnter Rücksichtslosigkeit stellte er diesen zur Rede mit führte somit eine Erklärung herbei, welche mit einem heftigen Auftritte und mit einem vollständigen Bruche endete. Herr von Prodschintzky legte bei dieser Gelegenheit einen Schwur ab, nun und nimmermehr in die Heirath seiner Tochter mit einem Ketzer einzuwilligen.

Mein College verließ das Schloß, ohne die liebenswürdige Anna noch einmal gesehen zu haben. Ich suchte ihn, so gut dies anging, zu trösten, obgleich ich von der Nutzlosigkeit meiner Worte vollkommen überzeugt war, denn wo hätte je ein Liebender auf Gründe und Zureden gehört? – Wie ich später erfuhr, hatte Brand noch einen Versuch gemacht, sich Anna zu nähern, und ihr heimlich einen Brief geschrieben. Das edle Mädchen gab eine Antwort, die ihrer würdig war; sie lehnte jede Correspondenz und Zusammenkunft hinter dem Rücken ihres Vaters entschieden ab, ohne jedoch ihrem Geliebten die Hoffnung gänzlich zu benehmen. Dagegen verwies sie ihn auf die Zukunft und gelobte nach wie vor unverbrüchliche Treue. Ich gab meinem Collegen den gewiß verständigen Rath, das Dorf zu verlassen und seinen Wohnsitz in irgend einem benachbarten Orte oder in der Stadt selbst zu nehmen, doch davon wollte er nichts wissen. Wenn er auch die Geliebte nicht sehen konnte, so wollte er doch wenigstens in ihrer Nähe bleiben.

Unterdeß schritt die Epidemie noch immer fort, ohne ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Aus den Hütten der Armuth stieg der Typhus in die Häuser der Reichen, in die Schlösser der Vornehmen und verbreitete daselbst ein gleiches, wo nicht größeres Einsetzen. Weder der Wohlstand und Ueberfluß, noch die sorgfältigste Pflege des Körpers schützten vor der furchtbaren Krankheit, welche sich immer weiter ausbreitete und alle Schichten der Gesellschaft bedrohte. So wurde eines Tages auch Herr von Prodschintzky plötzlich ergriffen und zwar mit solcher Heftigkeit, daß er sogleich sein Bewußtsein verlor. In ihrer Angst schickte die erschrockene Tochter nach dem Doctor Brand, den sie seit jener Zeit sorgfältig vermieden hatte. Er kam, und die Liebenden sahen sich zum ersten Male an dem Krankenbette des Vaters wieder.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 819. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_819.jpg&oldid=- (Version vom 30.11.2019)