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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)


und griff nur mechanisch dann und wann nach dem Kopfe, wie um seinen Hut fester darauf zu drücken. Da umbog er das letzte Gebüsch, und mit einem einzigen hastigen Blicke schien er jede Einzelnheit des vor ihm liegenden Bildes erfassen zu wollen. Die letzten vier, etwas abgesondert stehenden Häuser der langen Straße bildeten einen rauchenden, schwarzgebrannten Trümmerhaufen; sonst schien in der Doppelreihe der übrigen Gebäude nichts beschädigt zu sein – nach diesen zerstörten Wohnungen aber richtete der Knabe mit einem schluchzenden Laute seine beschleunigten Schritte. Ringsum war nicht ein einziger Mensch zu sehen, weder Freund noch Feind, und erst als Bill, bei den Trümmern angelangt, einen Blick voll Schmerz und Ratlosigkeit um sich warf, entdeckte er die Ursache dieser seltsamen Stille. Der Ausgang der eigentlichen geschlossenen Straße war durch eine Barrikade von Wagen und Fässern gesperrt – eine Befestigung, die jedenfalls Fred Minner noch zu rechter Zeit hatte herstellen lassen – und auf der Höhe derselben tauchte soeben ein Gesicht aus Bill’s Bekanntschaft auf. Der zugleich mit sichtbar werdende Gewehrlauf ließ den Zweck der Anwesenheit des Mannes leicht errathen.

„Um Gotteswillen, Mister,“ rief Bill hinauf, „wissen Sie nicht, was aus meiner Mutter geworden ist?“

„Halloh, Bill!“ kam die Antwort zurück, „krieche hier durch und sieh selbst in der Stadt nach; heute hat Niemand Zeit gehabt, sich um einen Andern zu bekümmern.“

„Es sind doch Alle aus den niedergebrannten Häusern hier gesund heraus gekommen?“ fragte Bill in einem Tone, dem er umsonst Festigkeit zu geben versuchte.

„Ich denke so, wenigstens habe ich bis jetzt von keinem Unglücke gehört,“ war die Erwiderung, „werden indessen wohl auch heute noch nicht erfahren, wie viel der Morgen gekostet hat!“

Ein schwerer Druck lag auf dem Herzen des Knaben, als er sich einen Weg zwischen dem verschiedenen Befestigungsmaterial hindurch bahnte, und schnellen Schritts wandte er sich der Mitte des Städtchens zu, von wo ihm der scharfe Wind Geräusch und verwirrte Laute entgegentrug. Links und rechts auf seinem Wege waren die Fensterladen und Thüren geschlossen, und außer einzelnen Bewaffneten, die hier und da sichtbar wurden, ließ sich nirgends ein lebendes Wesen erblicken.

An derselben Stelle, wo Bill am Abend zuvor der deutschen Unentschlossenheit eine Standrede gehalten, sah er jetzt fast die gesammte männliche Bevölkerung des Ortes bewaffnet und in einzelne Haufen geschieden stehen. Die kräftige Gestalt des Müllers Riese schritt ordnend und Befehle ertheilend dazwischen umher; vergebens aber sah sich der Knabe nach seinem Freunde Minner um. Er scheute sich, sich besonders bemerkbar zu machen, er fühlte es wie eine Art Schuld auf sich liegen, daß er seinen Auftrag nicht hatte ausführen können, daß er jetzt, nachdem sichtlich der Angriff der Secessionisten abgeschlagen worden, wie ein nutzloses Ding, das nichts geleistet und zu nichts taugte, zurückkehrte, und so wandte er sich nur an einige umherstehende Knaben seines Alters, um nach Fred, von dem er am ersten Auskunft über seine Mutter zu erhalten hoffte, zu forschen. Niemand aber wußte, wo dieser geblieben war, und selbst einzelne Anfragen in den Haufen der Männer führten nur zu einem Achselzucken als Antwort. Jeder schien im Augenblicke nur an sich und die allgemeine Gefahr zu denken. Dagegen traf Bill in dem Kreise seiner Altersgenossen auf einen mächtigen Enthusiasmus für den Müller Riese, welcher der Mann der Situation zu sein schien. Bill mußte gegen seinen Willen sich erzählen lassen, wie Riese mit einem einzigen Gehülfen die Mühle gegen die Secessionisten vertheidigt, bis ihnen fast die Flammen über dem Kopfe zusammengeschlagen; wie dann Beide dennoch glücklich entwischt seien und sich während der Nacht im Walde verborgen gehabt; wie sie dann heute Morgen die anrückende Bande bemerkt und noch zeitig genug die Stadt erreicht hätten, um den Räubern einen warmen Empfang bereiten zu können.

Fred Minner hatte mit dem Müller zusammen die anfängliche Vertheidigung geleitet – erfuhr Bill auf sein Befragen – nachher aber war von dem Erstern nichts mehr zu sehen gewesen; möglich, daß er verwundet sei, hieß es, und in irgend einem Hause liege.

(Fortsetzung folgt.)



Eine Besteigung des Monterosa.

Noch immer giebt es in der unwirklichen Nähe der Schneeregion der Alpenwelt Thäler voll prächtiger Landschaftsbilder, welche dem großen Touristenhaufen glücklich entgangen sind. Zu diesen gehörte lange Zeit auch das Vispthal, welches bis zu den Füßen des Monterosagletschers hinanreicht. Erst das Entstehen eines bequemeren Hotels, dicht an dem Rande der Eiswelt, und das Erdbeben, welches 1855 hier so gewaltig hauste, lenkte die Aufmerksamkeit der Naturfreunde auf diese Abzweigung des Rhonethals. Zu diesen gehörte auch ich. Es war im Jahre 1856, am 24. August, als ich im letzten Dorfe an der Visp, Zermatt, im Hotel zum Mont Corvin mein Nachtlager nahm. Hier erfuhr ich am andern Morgen von einem Engländer, daß er am folgenden Tage, falls er Begleiter fände, den Monterosa zu ersteigen gedenke. Sofort erklärte ich meinen Anschluß an die Partie und stieg freudig zum gewöhnlichen letzten Ziel der Reisenden, zur Riffelstation hinauf, von wo aus die Expedition beginnen sollte.

Im Laufe des Nachmittags mehrte sich die Zahl der Reisenden auf bedenkliche Weise, und zu meiner Ueberraschung erfuhr ich, daß nicht weniger als elf davon sich morgen unserer Expedition anzuschließen gedächten, lauter Engländer und Amerikaner, für welche außergewöhnliche Pläne stets besonderen Reiz gehabt haben. Mit zweien meiner künftigen Gefährten, Mr. B. und C., mußte ich denn auch, da ich in gewohnter ritterlicher Galanterie mein Zimmer einigen Damen abgetreten hatte, das Nachtlager theilen, und zwar, horribile dictu, in der Küche, wo wir im Rauche noch röstender Braten und beim Lärme der scheuernden Mägde auf jammervolle Lager gebettet wurden. In Anbetracht der kommenden Genüsse suchten wir uns jedoch den Humor nicht verderben zu lassen und thaten unser Möglichstes, um schnell einzuschlafen und mehr von Gletschern und Schneefeldern, als von angebrannten Coteletten und überkochenden Suppen zu träumen. Ein Glück, daß unser Vorsatz so ziemlich gelang, denn schon um zwei Uhr Morgens mußten wir uns vollständig gerüstet versammeln. Von diesen Ausrüstungen war nun jedenfalls meine die einfachste. Leichter Sommeranzug, bequeme aber dünne und wenig mit Nägeln beschlagene Stiefel, den Plaid lose über die rechte Schulter geschlungen, den Filz fest eingedrückt und einen kräftigen Alpenstock in den Händen: so stach ich bedeutend gegen die riesenhaften Engländer ab mit ihren massigen Fußbekleidungen, den doppelten, derben Körperhüllen, bewaffnet mit blauen Brillen, Schleiern, Fernrohren und anderem Reiseluxus. Fröstelnd begrüßten wir uns im Speisesaale bei flackerndem Kaminfeuer, das ein düsteres Licht über die matterleuchtete Tafel warf. Unter ziemlich einsilbiger Conversation goß jeder enorme Quantitäten von heißem Kaffee, Thee und Chocolade in den Magen, mit nicht unansehnlichen Flocken alten Brodes verdichtet. Denn dies mußte für wenigstens 16 Stunden der letzte warme Bissen sein, welcher daher von Jedem mit gebührender Aufmerksamkeit gewürdigt wurde. Doch fast hätte ich eine Hauptsache vergessen. Noch vor dem Frühstücke trat der Engländer, welcher die ganze Partie arrangirt hatte und wahrscheinlich Geistlicher war – sein Name ist mir entfallen – an den Tisch, hielt eine passende, kräftige Ansprache, warf sich auf die Kniee und flehte in schlichten Worten die Gnade des Herrn auf die Schaar herab, welche den Wundern seiner Schöpfung auf gefährlicher Bahn nahen und seine Größe in seinen mächtigsten Werken anstaunen wollte. Das Ganze war so einfach, so natürlich gesagt, daß sich Alle dadurch sichtlich erhoben fühlten. Leider verschwand für mich die frohe Stimmung sofort nach dem Frühstück. Denn als die von dem Wirth am Tage vorher für Jeden gepackten Ranzen mit Cognac, Brod, Käse, Chocolade, kaltem Fleisch und Backpflaumen – ein wenig probates Mittel gegen den Durst – visitirt wurden und Jeder mit seinem Führer sich bekannt machte, um das Letzte in Eile mit ihm zu verabreden, stellten sich mir nicht einer, sondern zwei Männer als für mich in Zermatt gedungene Führer vor. In Anbetracht meiner schwachen Börse und der Willkür des


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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_100.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)