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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

ich den Kopf zurück und sah das Bild oberhalb der Thür von der Nachmittagssonne beleuchtet, die durch die naheliegenden hohen Fenster schien. Das Gesicht des Knaben trat dadurch in einer Lebendigkeit hervor, wie ich es bisher noch nicht gesehen, und mich erfaßte plötzlich eine unwiderstehliche Sehnsucht, es in nächster Nähe zu betrachten. Ich horchte, ob Alles still sei; dann schleppte ich mit Mühe drei an den Wänden stehende Tische vor des Oheims Thür und thürmte sie auf einander, bis ich die Höhe des Bildes erreicht hatte. Während ich mitunter einen scheuen Blick über die schweigende Gesellschaft an den Wänden gleiten ließ, mit der ich mich in dem großen Raume eingeschlossen hatte, kletterte ich mit Lebensgefahr hinauf. Als ich oben stand, wallte mein Blut so heftig, daß ich das laute Klopfen meines Herzens hörte. Das Angesicht des Knaben war gerade vor meinem eigenen; aber die Augen lagen schon wieder im Schatten; nur die rothen, festgeschlossenen Lippen waren noch von der Sonne beleuchtet. Ich zögerte einen Augenblick, ich fühlte, wie mir der Athem schwer wurde, wie mir das Blut mit Heftigkeit in’s Gesicht schoß; aber ich wagte es und drückte leise meinen Mund darauf. – Zitternd, als hätte ich einen Raub begangen, kletterte ich wieder hinab und brachte die Tische an ihre Stelle.

(Fortsetzung folgt.)


Vom verlassenen Bruderstamme.
Nr. 4. Der Märtyrer von Oland.

Es war auf der Insel Föhr, einem jener siebenzehn Frieseneilande, welche zwischen Neutief und Listertief liegen, und die sogenannte Nordseeinselkette bilden. Die Inselkette dehnt sich sechzig deutsche Meilen Weges aus. Früher waren diese siebenzehn Inseln weit größer. Vor dem zwölften Jahrhundert hingen mehrere derselben noch zusammen; am kleinsten sind die Inseln zwischen dem Dollart und der Elbe geworden. Seit vielen Jahrhunderten pflegt alle 35 bis 40 Jahre nach einem uns unbekannten Naturgesetz eine ungewöhnlich hohe Sturmfluth einzutreten, welche, wenn sie sich bei einem wirklichen Nordseeorkan oder im Winter ereignet, die ganze friesisch-deutsche Nordwestküste unter Wasser setzt. Die Sturmfluthen und die Nordwestorkane haben in den verflossenen Jahrhunderten die siebenzehn Frieseneilande in Brocken verwandelt; aber diese Brocken sind die Außenbollwerke für die binnenliegenden 70 Meilen langen Marschstrecken mit goldenem Boden, ein Bollwerk von Sand, die goldenen Ringe um die Goldfelder der Nordwestküste Deutschlands. Die ganze Nordseeinselkette ist dem allmählichen Untergange durch die Sturmfluthen der Nordsee geweiht. Was gewesen ist, kann wiederkommen und wird wiederkommen. See und Sturm bleiben immer, was sie waren, und wie sie waren, aber die Gewalt der Winde wird stärker, wie die Gewalt der Wogen.

Die Wohnung des Märtyrers.

Es war ein heller, leuchtender Septembermorgen. Neben mir auf dem Bogen der Brücke in Wyk, wo die Dampfschiffe zu landen pflegen, welche nach Föhr und nach Silt während der Badesaison fahren, saß heute ein lieber Freund, Dr. jur. Petermann, Advocat in Alt-Strelitz in Mecklenburg. In dem in ganz Deutschland berühmt gewordenen Rostocker Hochverrathsproceß hatte er sich des Verbrechens der „Mißlichkeit“ schuldig gemacht, welches man in Mecklenburg, wie in Schleswig begehen kann, und war seiner

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_149.jpg&oldid=- (Version vom 4.3.2020)