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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

und in den Clubs waren es, welche Ulrich der Gräfin zu beantworten hatte, wenn er bei ihr erschien. Jeder Trommelschlag, jedes Freiheitslied, deren Klänge von der Straße in die Säle ihres Hauses drangen, machten sie erbeben, jedes Zeitungsblatt vermehrte ihre Angst, denn der Haß gegen die Leibwächter des Königs, gegen die Schweizer-Regimenter, war in den untern Classen fanatisch geworden, und Veronika begann zu fühlen, daß ihre Kräfte sie verließen.

Ein sehnsüchtiges Verlangen nach einem weiten Blick in’s Freie, nach Feldern, Wiesen, Wald und Bergen, die ersten Zeichen eines schmerzlichen Heimwehs fingen an sich ihrer zu bemächtigen, aber sie wollte dieselben nicht erkennen, und doch beengten die Mauern ihres Gartens, die Häuser der Stadt ihr mit jedem Tage mehr das Herz, doch wurde dieser Sommer ihr zu einer Qual, vor der sie sich nicht zu bergen wußte.

Eines Morgens befand sie sich in einem der Säle des Erdgeschosses, dessen bis zum Boden gehende Fenster sich nach dem Garten öffneten. Die Orangenbäume, die in doppelten Reihen auf der Terrasse aufgestellt waren, sendeten ihren Duft in das Zimmer, in dem vergoldeten Gitterwerk der Volieren unter den Buchsbaumhecken sangen die Vögel, aus der Muschel des Tritonen stieg vor dem Mittelfenster der Wasserstrahl in die Höhe und hob in regelmäßigem Wechsel die goldene Kugel bald hoch bis zu den Spitzen der regelrecht geschnittenen Buchsbaum-Obelisken empor, bald ließ er sie niederfallen bis hart an den Rand der Muschel; und wohin Veronika das Auge auch richtete, überall war es heute wie gestern, wie ehegestern, und wie es vor dem Jahre gewesen war.

Mitten in dem Saale stand ein Marmortisch. Veronika saß in einem Sessel zu seiner Rechten, der Graf saß an der andern Seite. Ein Diener hatte das Frühstückgeräth aus Sèvre-Porzellan aufgetragen und sich dann entfernt, denn man hatte von Rottenbuel her die Gewohnheit mitsammen zu frühstücken beibehalten, und es war das fast die einzige Stunde, in welcher Veronika den Grafen ohne Zeugen sah und sprach. Sie hatte ihm die Chocolade eingeschenkt, das Frühstück war beendet, und der Graf trat danach, in voller Uniform, zum Ausgehen angekleidet, an den vergoldeten Ständer des weißen Papageis, welcher gewohnt war, an jedem Morgen aus der Hand des Grafen sein Biscuit zu empfangen.

„Du könntest Pollo auf die Terrasse hinausbringen lassen,“ sagte der Graf, gleichmüthig mit dem Vogel tändelnd, „Pollo ist in dem warmen Wetter gern im Freien!“ – und als wolle er dem Vogel sein Behagen je eher je lieber bereiten, löste er das Schloß der Kette, mit welcher derselbe an seinem Ständer befestigt war, und trug ihn nach der Voliere hinaus, um ihn dort an einer ihrer hervorstehenden Verzierungen zu befestigen.

Es ist immer ein Tropfen, der den vollgefüllten Becher zum Ueberfließen bringt. Allen den Zuvorkommheiten, aller der Aufmerksamkeit und Willfährigkeit, welche der Graf der Marquise bezeigte, hatte Veronika mit äußerer Fassung gegenüber gestanden, seiner Fürsorge für Pollo vermochte sie nicht zu stehen.

„Für den Vogel sorgt er,“ sagte sie leise zu sich selbst, und in ihrem Herzen fügte sie hinzu: „und an mich denkt er nicht!“ – Die Thränen kamen ihr in die Augen, das Herz schwoll ihr empor und that ihr wehe, daß sie den tiefen Seufzer nicht unterdrücken konnte. Aber sie schämte sich ihrer Schwäche und wendete sich ab, dem Grafen ihre Thränen zu verbergen, als er, ihren Seufzer vernehmend, zu ihr zurücksah.

„Fehlt Dir Etwas?“ fragte er gelassen.

Veronika zwang sich zu lächeln. „Es geht mir wie Pollo!“ versetzte sie, „ich sehne mich in’s Freie!“

„Und weshalb fährst Du nicht aus?“ fragte der Graf weiter, in jenem Tone, mit welchem man eine oberflächliche Unterhaltung mit einem Fremden fortsetzt, „sind doch Leute und Pferde jetzt unbeschäftigt genug!“

„Du nanntest es bedenklich, Bester,“ erinnerte die Gräfin, „als ich neulich daran dachte, in das Gehölz zu fahren.“

„Die Wappen sind jetzt von den Wagenschlägen abgenommen, und ich habe unseren Leuten bis auf Weiteres die Livree untersagt!“ bemerkte der Graf mit Bitterkeit. „Es hat also keine Gefahr!“

„Und Du hast Nichts dagegen, wenn ich ausfahre? Ich möchte wohl einmal nach Saint-Denis, nach Montmorency!“

„Warum so weit? Warum nicht in das Gehölz?“

„Ach!“ rief die Gräfin, einmal ihrer selbst nicht mächtig, „wenn Du mich begleiten, mit mir kommen wolltest! Wenn wir nur einmal, nur einmal wieder, wie in den schönen Tagen, die nicht mehr sind, uns gemeinsam die Seele erfrischen könnten an dem vollen Sonnenschein, an der frischen Luft in Wald und Feld, wenn nur eine jener Stunden wiederkehren möchte, in welchen wir in die Heimath, auf unsern Schlössern des schönen Glaubens lebten –“

Der Graf ließ sie nicht zu Ende reden. Seine Miene war finster geworden, er ging nach der Seite des Zimmers, an welcher sich neben der Thüre der Drücker zur Klingel befand.

„Die Monarchie geht unter, wir stehen am Rande eines Abgrundes, und Du hegst die tändelnden Gedanken einer schwärmerischen Mädchenseele! Jeder Tag kann unser letzter werden, und Du magst daran denken, Dich zu vergnügen!“ sagte er unwillig, weil die Worte der Gräfin und der Ton, mit welchem sie gesprochen wurden, ihm unwillkürlich eigene Erinnerungen wach riefen, die er zu übertäuben gelernt hatte.

Er hatte den Klingelzug ergriffen; die Gräfin, welche aufgestanden und dem Grafen gefolgt war, hielt seine Hand zurück. Sie war blässer geworden, als sie es jetzt ohnehin schon war; aber ihre Augen erglänzten hell, obschon Thränen in ihnen schimmerten, und ihrem Gatten fest in das Antlitz schauend, sprach sie, weil sein Vorwurf ihr das Herz umwendete: „Ich mich vergnügen, Joseph? Woher sollte mir die Neigung dazu kommen? Es giebt kein Vergnügen, keine Freude für ein verlassenes Weib, für ein Weib, das sich sagen muß, es wurde nie geliebt, und alle seine Liebe, alle Gluth und Treue seines Herzens reichte eben nur hin, dem Manne, dem sie geweiht waren, für einen Augenblick die Untreue einer Anderen vergessen zu machen.“

Der Graf fuhr auf. „Was soll das, Veronika?“ rief er, „was sollen uns Erörterungen, die Keinem von uns fruchten? Wir haben uns getäuscht – Du sagst es – sei es drum! Aber können wir das ändern? Können wir Geschehenes ungeschehen machen? “

„Joseph!“ rief die Gräfin, die sich kaum aufrecht zu erhalten wußte, „Joseph! besinne Dich; mit diesen Worten trittst Du meine Vergangenheit mit Füßen, zerstörst Du und vernichtest Du mir die Zukunft! Nimm diese unglückseligen Worte zurück. Laß mir die Möglichkeit, die Möglichkeit wenigstens, mich zu täuschen, mich mit meinen Träumen und Hoffnungen zu täuschen. Es ist die erste Klage, die Du von meinem Munde hörst, es soll die letzte sein!“

Sie war außer sich, und sich ihm zu Füßen werfend, rief sie: „Täusche mich, um Gottes Barmherzigkeit willen täusche mich! Mach’ es mich glauben, o! mach’ es mich glauben, daß Du mich einst geliebt hast, daß Du mich einst noch wieder lieben wirst! Ich kann nicht leben ohne diesen Glauben!“

Der Graf hob sie empor, der Vorgang hatte ihn erschreckt, er ängstigte und quälte, er erschütterte ihn sogar, aber er rührte ihn nicht. Die Marquise hatte der Gräfin das Herz ihres Gatten vollständig abwendig gemacht.

„Veronika,“ sagte er, und an der Ruhe, mit welcher er zu ihr sprach, konnte sie die ganze Kluft ermessen, welche ihn von ihr trennte, „wir Menschen sind nicht Herren über unser Herz. Was ich in frühern Jahren an Franziska auch getadelt habe, ich habe sie geliebt seit meiner ersten Jugend. Als ich Dich sah, glaubte ich sie vergessen zu können. Du bist die einzige Frau, welche mir diese Zuversicht eingeflößt. Nicht Dein, nicht mein und nicht Franziska’s ist die Schuld, daß mich mein Herz betrog. Ich liebe Franziska, wie je zuvor, und ihre heroische Hingebung an die Sache, welcher ich diene, einer Sache, die Dir fremd ist, hat sie mir jetzt verehrungswürdig gemacht. Es ist nicht gut, daß es so ist, aber es waltet eben ein unglückliches Verhängniß über uns. Wer kann das ändern?“

Die Gräfin war starr vor Schrecken. Sie schwieg eine Weile, wie gelähmt vom Schmerz, dann schlug sie die Hände über ihrem Haupte zusammen, und mit einer Stimme, der man ihre ganze Verzweiflung anhörte, rief sie: „Wie bist Du Dir selbst entfremdet!“

Sie standen einander gegenüber, aber sie fanden die Worte nicht mehr, die von ihr zu ihm, von ihm zu ihr die Brücke bilden konnten. Das dauerte einen Augenblick, endlich nahm Veronika ihre letzte Kraft zusammen und sagte: „Du hast es ausgesprochen, und ich habe es längst geglaubt, daß jedweder Tag uns hier die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_159.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)