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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

des Pfarrhauses. Die hohe Springfluth, welche die Wellen der Nordsee vor einigen Tagen über die ganze Insel hinweggeführt hatte, war der armen Frau eine ganz neue und abschreckende Erscheinung. Entsetzen blickte aus ihren Augen und aus den Augen der Kinder, als sie uns erzählte, wie das Meer immer und immer höher gestiegen sei, wie nach und nach die Wellen die ganze Fläche der Insel in eine schäumende See verwandelt haben, wie mit dem dunkeln Schatten des Abends die Wasser wiederum gewachsen seien, wie gegen Mitternacht der Sturm geheult und getobt und die ganze Wurt erschüttert habe, auf der das Pfarrhaus und die Kirche steht.

Dann sei der blanke Hans über die Wurt gestiegen und habe mit seinem nassen Finger an die Schwelle ihres Hauses geklopft. Nun wäre sie mit ihren Kindern auf das Dach des Hauses gestiegen. Die Kinder hätten geschrieen vor Angst und vor Entsetzen. Und alle die entsetzlichen Bilder, die schrecklichen Nächte mit den untergegangenen Dörfern, mit den im Mondlichte schwimmenden Leichen in den schäumenden Wogen, von denen ihr die alten Leute auf Silt so oft erzählt hätten in den langen Winterabenden, seien wieder aufgestiegen in ihrer Erinnerung; wie Gespenster hätten die Leichen sie angeblickt mit den weit geöffneten Augen und den bleichen Todtengesichtern, und die langen Haare hätten getrieft von salzigem Meerwasser, und seien durchflochten gewesen mit dem grünen Seetang und mit weißen Wasserblumen, und dann hätte sie rund um Oland alle die versunkenen Friesendörfer mit ihren weißen Häusern und gothischen Thürmen, mit den gelben Kornfeldern und den grünen baumlosen Wiesen aus den Fluthen steigen sehen – und dann sei ihr vor Entsetzen das Bewußtsein geschwunden.

„Es war eine schreckliche Nacht,“ rief sie, „und diese Nächte werden im Winter häufig wiederkehren, bis – –

Sie vollendete den Satz nicht. Wir schwiegen. Ich wußte, was sie sagen wollte, und was sie nicht auszusprechen wagte.

„Und ist es nicht grausam,“ begann sie von Neuem, „es ist kein Arzt auf der Insel, und während des Winters sind wir Wochen lang ganz abgesperrt vom Festlande; wenn die Kinder krank werden, sie werden sterben ohne jede Hülfe. Und wenn die salzigen Wellen in unsere Cisternen strömen, dann haben wir kein Trinkwasser. Kein Brod und kein Wasser! Es ist grausam.“

Mein Herz war voll von Wehmuth und Schmerz. Ich schwieg. Worte konnten diese Schreckbilder der Phantasie nicht verscheuchen, welche vielleicht in der nächsten Nacht wieder aus der Tiefe des Meeres hervorstiegen und auf den Stürmen und Wolken heranzogen.

Ich kenne an der orangengeschmückten Küste Siciliens nicht weit von Trapani eine ähnliche Insel, wo der König Bomba die politischen Gefangenen verwahrte, welche ihm als seiner Regierung besonders gefährlich erschienen. Es ist die Insel Favignana, auf der sich der berüchtigte Bagno der heiligen Catharina befindet. In diesem Bagno war bis zum 4. Juni 1860, wo die bourbonischen Truppen den Soldaten Garibaldi’s Trapani überließen, der junge Baron Nicotera eingesperrt, der Freund Carlo Pisacane’s, Herzogs von San Giovanni, welcher vor mehreren Jahren in einem Aufstande in Calabrien den Heldentod für Italien starb. Nicotera war durch die Kriegsgerichte in Salerno zu lebenslänglicher Gefangenschaft verurtheilt und in den Bagno von Favignana eingeschlossen worden. Während der ersten sechs Monate befand er sich in einem der unterirdischen Gefängnisse. Für einige Sous Brod bildete seine tägliche Nahrung. Alle Tage mußte in den Regentagen das in das Gefängniß eingedrungene Regenwasser ausgeschöpft werden, wenn der Gefangene nicht in seinem Kerker ertrinken sollte. Es befanden sich oft an hundert Eimer Wasser in demselben. Der Gefangene des grausamen und blutdürstigen Königs beider Sicilien brauchte aber weder vor dem Hungertode, noch vor dem Tode durch Ertrinken zu zittern. Er wußte, daß ihm regelmäßig Brod und Trinkwasser, um sein Leben zu erhalten, gereicht wurden; er wußte, daß seine Kerkermeister das Regenwasser ausschöpften, das zuweilen einige Fuß hoch an den Wänden seines Gefängnisses hinanstieg.

Und der Märtyrer von Oland? Er weiß nicht, ob in den kalten und stürmischen Nächten des Monat Januar nicht die Wogen der Nordsee bis zum Giebel seines einsamen Hauses hinansteigen und ihn und seine Frau und seine Kinder in die Tiefe des Meeres hinabreißen; er weiß nicht, ob ihm nicht Tage lang das Brod und das Trinkwasser fehlen wird; er weiß nicht, in welcher Sturmnacht die letzte Stunde für Oland vom Thurme seiner einsamen Kirche schlägt

G. Rasch


Der Bergsturz bei Schandau.

Von M. M. von Weber.
(Schluß.)


Mit der Besonnenheit der Todesnähe werden die Lebensmittel Aller, aus dem mitgebrachten Mittagbrode bestehend, dem alten Linke übergeben, der sie ihnen sparsam zumessen soll, denn es kann nothwendig werden – lange zu hungern und zu dursten – und zu frieren. Macht doch die Kellerluft nach und nach das Blut erstarren. Das wenige Stroh, das in der Höhle ist, wird in einen Winkel getragen, dort sollen sich die Mattesten hinlegen, wenn der Hunger grimmiger wird, um da zu ruhen – um da zu sterben – wenn’s Gott nicht anders will. –

Langsam schleichen die unendlichen Stunden, die auf den Uhren ein dann und wann aufflackerndes Streichhölzchen zeigt. Todtenstill ist’s in der Höhle, nur hier und dort in der Finsterniß ein leises Weinen, oder das Murmeln eines Vaterunsers, oder ein leiser, schluchzender Ruf nach lieben Kindern, oder der armen verzweifelnden Frau daheim. Den Hunger bannt noch den ganzen ersten Tag die Erschütterung der Seele, aber die Kälte kriecht mit tausend eisigen Schlangenringen an die Armen heran, die in ihren dünnen Arbeitsanzügen auf dem Steinboden liegen und sich aneinanderdrücken, um nicht zu erstarren.

Tröstlich, und wie ein Ton vom Leben draußen, klang es durch die wehevolle Stille, wenn der alte Linke seine zitternde Stimme erhob und einen Vers der heiligen Schrift sprach. „Es war so,“ sagte ein Geretteter später, „als wenn’s zum Gottesdienste läutete und als spräche uns Gott selbst Trost zu!“


Draußen aber war der Donner des Sturzes weit und breit gehört worden; aus allen nahegelegenen Brüchen hatte man gesehen, daß da alle Arbeiter im Fröde-Pieschelschen Bruche verschüttet waren, und die Schreckenspost lief im Nu auf Wegen, Schienen und Drähten in die Heimath der Verschütteten, nach den Sitzen der Behörden, nach den Brüchen, wo die wackern Arbeitsgenossen der Verunglückten thätig waren.

Und diese eilten schnellsten Laufes herbei, ohne Rücksicht auf die verlorenen Löhne, ohne zu wissen, wer ihnen Nahrung und Obdach gewähren würde während der schweren Arbeitstage – nur um zu retten! Die städtischen Behörden von Schandau, alle königlichen Mittel- und Unterbehörden der Umgegend waren spornstreichs zur Stelle, so daß schon am Mittag des Unglückstages über 100 geübte Steinbrecher, eine Anzahl Bergleute aus Gießhübel und alle öffentlichen Autoritäten, die das Rettungswerk fördern konnten, den Felstrümmerberg umstanden, der die Armen deckte. Die ungeheure Masse desselben, die Gefahr, die Jedem, der ihm nahte, noch durch die von der Felswand von Zeit zu Zeit herabstürzenden Bröckel und Massen drohte, ließen auch die Arme des arbeitsmuthigsten Laien muthlos am Körper herabsinken. Dazu begann eisiger Regen herabzupeitschen, der Strom, über den her alle Hülfsleistung kommen mußte, führte starkes Treibeis, die Wege wurden glatt und schlüpfrig, jeder Tritt gefahrvoll, und überdieß zerriß das Wehklagen der durchnäßt und frierend allenthalben auf Felsblöcken und Rainen umhersitzenden Angehörigen der Verschütteten die Herzen, so daß tiefe Depression der Gemüther den Beginn der eigentlichen Arbeiten fast bis gegen Abend hinausschob.

Doch war die Zeit bis dahin nicht ungenützt verstrichen. Mit einer Todesverachtung, die des höchsten Lobes werth ist, und von der genausten Kenntniß des Bruches, seiner Gesteinschichten


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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_170.jpg&oldid=- (Version vom 2.6.2023)